"Falstaff" in Zürich: einer von diesen seltenen Typen

Georg Rudiger, Badische Zeitung (22.01.2011)

Falstaff, 20.03.2011, Zürich

Sven-Eric Bechtolfs und Daniele Gattis "Falstaff" in Zürich.

Man muss nicht gleich an Bunga-Bunga-Partys denken, wenn man über die Libido alter Männer sinniert. Charlie Chaplin zeugte mit 72 Jahren seinen jüngsten Sohn – war aber zu gebrechlich, um ihn auf den Arm zu nehmen. In der Oper werden liebestolle Alte gerne zu Hauptfiguren, zum Amüsement des restlichen Personals. Donizettis Don Pasquale ist genauso wenig vor Frühlingsgefühlen gefeit wie Verdis Falstaff. Auch der strotzt vor Selbstbewusstsein, leidet unter Realitätsverlust und besitzt ein nicht unbedingt politisch korrektes Frauenbild. Aber trotz allem ist Falstaff eine vitale Sympathiefigur.

"Falstaff ist ein Fuchs, der alle Arten von Untaten begeht. (...) Er ist ein Typ! Sie sind so selten, die Typen!", schreibt Giuseppe Verdi über seine von Librettist Arrigo Boito nach Shakespeare geschaffene Hauptfigur. Auch Ambrogio Maestri ist ein Typ, der mit einem Augenzwinkern mehr Präsenz entfaltet als so mancher seiner Kollegen an einem ganzen Abend. Von Beginn an steht dieser Falstaff im Mittelpunkt von Sven-Eric Bechtolfs so kluger wie leichtgängiger Inszenierung am Zürcher Opernhaus. Sein polterndes Proletentum im ersten Akt wird vom Opernorchester unter der Leitung von Daniele Gatti mit kräftigen Bässen unterstrichen. Begibt sich Falstaff im zweiten Akt auf sein erstes Liebesabenteuer, so bringt Ambrogio Maestri den herausgeputzten Dickwanst (Kostüme: Marianne Glittenberg) zum tänzeln. Herrlich, wenn sein so wuchtiger Bass plötzlich, wie nach einem Bad im Jungbrunnen, schlank und beweglich wird, wenn das Parlando wie geschmiert läuft und er sich wie beim Kaffeekränzchen mit Mrs. Alice Ford an seine Jugendzeiten erinnert, während das Orchester das Gesagte mit hüpfenden Achteln kommentiert. Seine Vertrautheit mit der Partie ist dem Italiener in jedem Takt anzumerken – auch im Baden-Badener, von Thomas Hengelbrock dirigierten "Falstaff" vor vier Jahren brillierte der Bariton. Und gibt nicht nur im Wäschekorb, in den er flüchten muss, den Komiker.

Auch Sven-Eric Bechtolf nimmt die Komödie ernst. Das Timing stimmt, das Tempo auch. Selbst die slapstickartige, von Verdi enorm angeheizte Tumultszene im zweiten Bild des zweiten Aktes, in der der eifersüchtige Ford (stark: Massimo Cavalletti) mit einer ganzen Armee von Feuerwehrmännern den Alten in seinem Haus sucht, wird nicht zu platt. Ganz ungebrochen lässt Bechtolf Verdis "Commedia lirica" trotzdem nicht. Immer wieder hält er die Bewegung auf der Bühne an und lässt zumindest einen Teil der Figuren im Freeze verharren. Das kann die Männerwelt von der der Frauen trennen. Das kann Personen zu stummen Beobachtern machen und auch Raum schaffen für die einzige ungetrübte Liebesgeschichte, die in Verdis letzter Oper ablaufen darf – die zwischen Nanetta und Fenton. Hier lässt der Komponist immer mal wieder für einige Takte die Zeit stillstehen und schafft ein paar lyrische Inseln in der ansonsten äußerst kleingliedrigen Partitur.

Vor allem Eva Liebau veredelt mit ihrem schlackenlosen Sopran diese Linien zu reinen Glücksmomenten. Auch Javier Camarena nutzt jede Chance auf Melos, auch wenn er gelegentlich manche Töne zu sehr von unten ansingt und dabei die Intonation etwas verrutscht. Jürgen Hoffmann leuchtet diesen "Falstaff" so hell aus wie jene "Così fan tutte", die Sven- Eric Bechtolf vor knapp zwei Jahren mit seinem Team in Zürich inszenierte. Rolf Glittenbergs Bühnenbilder sind Variationen eines Raums. Für das große, weiße Bretterhaus, das diesem "Falstaff" viel Raum lässt, hat sich Glittenberg von einer Scheune auf Verdis Anwesen inspirieren lassen. Eine sommerliche Stimmung liegt über der Szenerie. Barbara Frittoli ist eine selbstbewusst strahlende Mrs. Alice Ford, der man in den wunderbar ausgesungenen lyrischen Momenten aber auch die eigene Liebesenttäuschung anmerkt. Yvonne Naef (Mrs. Quickly) und Judith Schmid (Mrs. Meg Page) entfalten dunklere Töne, ohne dabei an Leichtigkeit zu verlieren. Höchste Vitalität kennzeichnet auch den Orchesterpart. Daniele Gatti wählt harte Schnitte, wenn nach kurzen Atempausen die Streicher wieder Haken schlagen. Das trockene Blech lässt er wie eine Banda klingen, die Tuttischläge sind präzise. Nur in den Ensembles wie am Ende des ersten Aktes klappert es ein wenig zwischen Orchestergraben und Bühne.

Das Ende gehört wieder Falstaff. Die letzte Generalpause der Chorfuge dehnt Dirigent Gatti auf mehrere Sekunden, ehe Ambrogio Maestri sein "Tutti gabbati" (Lauter Gefoppte) ein letztes Mal anstimmt. Dabei gehen die Lichter im Zuschauerraum an – und man ist plötzlich selbst Teil des Spiels.