Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (28.03.2011)
Eine getanzte «Alcina» hat am Samstag das Theater St. Gallen auf die Bühne gebracht. Der Ballettchef Marco Santi liess in Händels Zauberoper die Gegensätze von Barockgesang und modernem Tanz ohne Puffer aufeinander treffen.
Es beginnt schon ganz verkehrt: Wie Oratoriensänger kommen Morgana, Bradamante und Melisso auf die Bühne. Die erste Arie gehört Morgana, sie singt von ihrer Liebe für den schönen Ankömmling Bradamante. Dummerweise ist der kein Mann, sondern eine verkleidete Frau, die auf der Suche nach Ruggero, ihrem Verlobten, ist, der von der Zauberin Alcina betört auf deren Insel hängen geblieben ist. Ebenso dummerweise ist Bradamante aber noch gar nicht verkleidet – so sind wir schon auf dem Verfremdungstrip, noch bevor die Oper richtig angefangen hat.
Auf diesem Trip bleiben wir in der Inszenierung des St. Galler Ballettchefs Marco Santi die ganze Händel-Oper über. Seine Tänzerinnen und Tänzer sind nicht wirklich Personal auf Alcinas Zauberinsel, sondern zeigen Liebesgymnastik und erotische Fantasien auf dem zweistöckigen Brettergerüst, das Katrin Hieronimus als Bühne eingerichtet hat. Daneben hängen sie in ihren Pausen – immer sichtbar für uns – herum, wechseln die Kostüme, warten betont lustlos auf ihren nächsten Einsatz.
Eigentlich nicht inszenierbar
Santi verzichtet also darauf, die Barockoper zusätzlich zur Inszenierung auch noch zu choreografieren. Es gäbe dafür historische Vorbilder: Händel, im Wettbewerb mit anderen Londoner Opernunternehmern, lud die französische Tänzerin Marie Sallé, die für ihre Bühnenpräsenz und ihre für die damalige Zeit freizügigen Kostüme berühmt war, in seine Kompagnie und fügte für sie eine Reihe französischer Tänze in die Oper. Santi nun lässt die beiden Sphären, Oper und modernen Tanz, recht beziehungslos nebeneinander stehen und erliegt auch nicht der Versuchung, ständig etwas Szenisches präsentieren zu müssen. Manchmal dürfen die grossen Da-capo-Arien auch einfach für sich stehen, so wie sie gedacht sind.
Das ist eh die Crux an Händels Opern. Man kann diese Vokalartistik, in der die Handlung völlig stillsteht und minutenlang nur ein Gefühl (im Mittelteil oft ein Gegenstück dazu) evoziert wird, kaum inszenieren, weil einfach nichts passiert und weil man dank der – selbstverständlich kunstvoll variierten – Wiederholung des ersten Teils am Ende jeweils wieder am Anfang der Arie landet. Santis Arbeit ist auf jeden Fall kurzweilig, aber viel Sinn macht sie im Grunde nicht.
Zu wenig Präzision und Spritzigkeit
Musikalisch kam die Produktion nicht so recht auf Touren. Schon in der Ouvertüre wurde deutlich, dass sich das St. Galler Sinfonieorchester klanglich zwar an den Vorbildern der Barockensembles orientiert, aber bei Weitem nicht deren Präzision und Sicherheit, Geläufigkeit und Spritzigkeit erreicht. Dirigent Robert Howarth hielt Tempi und Drive hoch, konnte auf das Engagement des Ensembles zählen und hielt auch den Kontakt zwischen Bühne und hochgefahrenem Graben mit wachen Reflexen auf gutem Niveau.
Auf dieser Höhe bewegte sich auch das Sängerensemble, ohne wirklich berauschend zu singen. Die technischen Schwierigkeiten in Händels grossen Arien – Koloraturen, Sprünge, Verzierungen – gelangen oft nur mit Bangen und Herzklopfen. Die Ausnahme war Delphine Galou als Bradamante, welche die virtuoseste Koloratur-Arie mit Bravour in den Saal schmetterte. Wirklich intensive sängerische Momente gelangen daneben eher selten, und meistens war Netta Or in der Titelrolle dafür verantwortlich. Sie fand für Alcinas Klagegesänge teilweise wirklich bezwingend schöne Linien und Farben, für den Rache-Engel dagegen fehlte ein wenig die Durchschlagskraft.
Das galt insgesamt noch stärker für den Ruggiero von Antigone Papoulkas: Da war einfach zu wenig heldische Attitüde. Ein Countertenor wäre wohl die bessere Besetzungsidee gewesen. Die Uraufführung 1735 zum Beispiel sang kein Geringerer als der neben Farinelli berühmteste Kastrat Carestini.