Neuer Zauber

Peter Surber, St. Galler Tagblatt (28.03.2011)

Alcina, 26.03.2011, St. Gallen

Händels Alcina ist in St. Gallen ein Fest der Stimmen und Körper. Tanzchef Marco Santi inszeniert.

Der Zauber wirkt nicht mehr. Vergeblich ruft Alcina die «ombre pallide» an, die Geister, die ihr früher zu Diensten waren auf ihrer Insel. Das Orchester schweigt, die Rufe verhallen ohne Echo, ausser drei bleichen Gespenstern kommt nichts. Alcinas Kraft ist weg. Dafür übernimmt ein anderes Wundermittel das Regiment: die Musik. Reinste Magie, wie Händel das komponiert hat.

Seine oft als «Zauberoper» bezeichnete «Alcina» von 1735 erzählt eine Wende, darin vergleichbar Mozarts «Zauberflöte». Alcina lockt Männer auf ihre Insel und verwandelt sie in Tiere. Jetzt aber hat sie sich ernsthaft verliebt, in Ruggiero. Bradamante, dessen vorherige Geliebte, kommt als Mann verkleidet auf die Insel, um ihn zurückzuholen. Morgana, Alcinas Hexenschwester, verliebt sich auf der Stelle in Bradamante. Das Thema heisst, arienfüllend: Liebe, Untreue, Eifersucht, Verrat, Liebe. «Amore» reimt auf «traditore». Am Ende aber ist die Liebesordnung wieder hergestellt und die Insel befreit.

Koloraturen auf Rädchen

Ein paar Zaubertiere, ein Löwe, ein Frosch, ein Hahn bieten einmal kurz ein vergnügliches Zooballett. Sonst aber hält es die Inszenierung nicht mit Gaukelei, sondern mit Kunst und Könnerschaft. Die Bühne (Katrin Hieronimus) ist keine Barockinsel, sondern eine währschaft gezimmerte Fachwerkkiste. Und die Emotionen sind aus Fleisch und Blut: Die 14köpfige Tanzkompagnie setzt sie körperlich um. Sie formt zur Musik bewegte Tableaus in wechselnder Besetzung – Soli, Duos, Ensembles – auf Tischen und Bänken, an Balken und Stangen, erdenschwer oder federleicht, liebestoll und liebeskrank.

So gewittrig die Emotionen und die Geschlechterrollen umschlagen, so wechselhaft sind die Kleider: Kostümbildnerin Katharina Beth, Schneiderei und Requisite haben ihren grossen Tag. Sinnigerweise stehen die Requisitenkisten gleich mit auf der Bühne, Schminke und Garderobe sind im Hintergrund installiert, hier entsteht Theater live.

Tänzer Yannick Badier packt also die Gelegenheit und saust mit der jubilierenden Andrea Lang («Tornami a vagheggiar») auf dem Requisitenwägelchen über die Bühne. Die Da-Capo-Verzierungen, die ihrer Morgana auch sonst leicht aus der Kehle perlen, kommen da erst recht in Schuss. Unwiderstehlich, witzig und virtuos – erste Bravos von den Rängen.

Fest der Frauenstimmen

Die Bravos gelten am Ende zu Recht allen Solisten, aber vorneweg Netta Or und Antigone Papoulkas. Bei ihrem Rollendébut als Alcina besticht Netta Or mit leicht geführtem Sopran, samtweich in den Pianissimi, aber zupackend mit leicht metallischem Glanz im Forte. Ihre Stunde schlägt gleich nach der Pause, beginnend mit dem berühmten «Ah! mio cor!»: berückend ihr Klagelied, ausgesetzt oben im grellen Scheinwerferlicht – und dann der Wutausbruch («Ah, Ruggiero crudel»), die Auflehnung, das Trauern, am Ende die Ergebung in die Wahrheit der Tränen («Mi restano le lagrime»).

Zorn und Zartheit des Ruggiero verkörpert die junge deutsche Sängerin Antigone Papoulkas ideal. Mit knabenhafter Erscheinung und facettenreichem Mezzo, mit blitzenden Augen und ebensolchen Koloraturen schlägt sie das Publikum in Bann. Händel hat dem ursprünglichen Kastratenpart einige der sprühendsten Einfälle gewidmet, vom Blockflöten-umschmeichelten «Mio bel tesoro» bis zum hornklirrenden Kriegslied. Das inspiriert auch Tanzchef Santi – beim ersten formiert er die Tänzerinnen und Tänzer zu einer Hochzeitsprozession à la Fellini, danach zur halbernsten Guerillatruppe. Es sind Bilder, die nicht weniger als die Töne nachklingen.

Im Furioso der Händel'schen Wutausbrüche bewährt sich auch die Französin Delphine Galou als Bradamante. Ihr «Vorrei vendi-carmi» ist eine Explosion, Ruggiero hält sich die Ohren zu, das Publikum jubelt. Wade Kernot liefert als Melisso die seltenen tiefen Töne in dieser Oper der hohen Stimmen und höchsten Stimmungen. Arthur Espiritu (Oronte) steht an Virtuosität nicht hintan, wenn er vom «folle affetto» in horrendem Tempo singt.

Dirigent Robert Howarth nimmt die «verrückten» Affekte beim Wort und geht in die Extreme – atemstockende Langsamkeit schlägt in riskantes Prestissimo um. Das Sinfonieorchester St. Gallen hält, nach noch etwas überhasteter Ouverture, unerschrocken mit.

Getanzte Psychologie

In dieser Musik ist alles schon komponiert. Braucht es da noch den Tanz? Marco Santi sucht nicht die äussere Form, sondern den inneren Gehalt in Bewegung zu bringen. Schönheit (erotisch aufgeladen in Alcinas Trauerarie «Si: son quella»), Schmeichelei, Treulosigkeit (südländisch heftig zu «E gelosia»), Rache, Zerrissenheit, Versöhnung: All das findet seine so heutige wie die Musik respektierende, man möchte sagen: zärtliche Körpersprache. Nur wenn es ganz einsam um die Liebenden wird, dann sind sie auch von allen guten Tanzgeistern verlassen.

An die Stelle barocker Illusionszauberei tritt eine psychologisch und physisch vehemente Liebeslektion. Dafür nimmt Santi Kürzungen in Kauf – rund ein Drittel der Arien fallen weg, darunter leider das einzige Ensemblestück «Non è amor», und die Nebenhandlung um Oberto ist reduziert auf die stumme Rolle des Tänzers Yannick Badier. Damit hängt der Schlusschor textlich im Leeren.

Das Stück kommt, nachdem Ruggiero der untergehenden Inselseligkeit noch eine der schönsten Arien, den Sehnsuchtsschlager «Verdi prati» nachgeschickt hat und der Krieg losgeht, abrupt zum Ende. Die alte Zauberwelt mit Alcina und Morgana landet in der Abstellkammer. Aber das alte Zauberstück «Alcina» ist zugleich triumphal neu belebt.