Ein Stück sucht noch sein Orchester

Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (03.04.2011)

Die tote Stadt, 01.04.2011, Bern

Das Stadttheater Bern präsentierte am Freitag mit Erich Korngolds Oper «Die tote Stadt» ein sehr dankbares Stück. Die morbide, surreale, erotisch aufgeladene Atmosphäre konnte die Inszenierung allerdings nur vage einfangen.

Nein, tot ist sie nicht, diese Stadt. Nicht Bern an einem warmen Frühlingsabend, und nicht dieses Brügge auf der Bühne seines Stadttheaters. Rein, weiss und modern präsentiert sich das Kabinett, die «Kirche des Gewesenen», die Paul zum Mausoleum für seine früh verstorbene Gattin Marie machte. Nichts Verstaubtes, Unheimliches und Morbides ist darin, und diese helle, saubere Atmosphäre widerspiegelt auch die Inszenierung von Gabriele Rech, die mit der Oper Nürnberg koproduziert wurde.

Mit dem Verschieben von drei gigantischen Bühnenwänden von Stefanie Pasterkamp gerieten zwar die architektonischen Konstellationen immer wieder aus dem Lot. Aber als Chiffre für das Irrationale, für die Verschiebungen der Ebenen zwischen Realität und Wahn, war das zu wenig. Die Traumverirrung und Verwirrung des Helden, sein Absinken in unbewusste Wünsche, Ängste und Projektionen präsentiert uns die Regisseurin klar und klinisch auf dem Präsentierteller und behauptet damit eine so abstruse Geschichte, dass wir sie in diesem modern-rationalen Ambiente einfach nicht recht glauben wollen. Verwischtheit und Unbestimmtheit, Zwischenwelten und Wachträume, Einbildung und Unbewusstes würden eine andere Atmosphäre und vielschichtigere Stimmungen verlangen, so wie es die Musik Korngolds auch immer wieder tut, die sich zwar durchaus zu zucker süssen Operetten-Arien aufschwingen kann, aber vor allem in der Orchesterbegleitung vom Instrumentalen Ungefähr, von ständig wechselnden Farben und in unerwarteter Weise weitergespinnten Linien lebt.

Vom Reliquienkult zurück ins Leben

Die Geschichte, die auf ein Drama des belgischen Symbolisten Georges Rodenbach zurückgeht, ist so skurril wie operntauglich, und sie passt ins künstlerisch bewegte und gesellschaftlich durchgerüttelte Wien der Zwanzigerjahre, wo das gefeierte Wunderkind Korngold und sein schreibender Vater sie ansiedelten: Ein Witwer errichtet seiner verstorbenen Frau ein Mausoleum voller Reliquien, er trifft eine Tänzerin, die ihr gleicht, verliebt sich deswegen in sie und kommt aus dem Konflikt zwischen Treue und Begehren, zwischen toter und lebendiger Liebe nur heraus, indem er sie schliesslich umbringt. Allerdings ist auch das alles nur geträumt, ein erotischer Tagtraum von ein paar Minuten Dauer. Am Ende kommt sie zurück, holt die vergessenen Rosen und lässt einen geläuterten Helden zurück, der nun fähig ist, mit seinem Reliquienkult zu brechen und ins Leben zurückzukehren.

Korngolds «Tote Stadt» enthält Musik von einer Sinnlichkeit, Intensität und Dramatik, die keinen Vergleich zu scheuen braucht, die in der Meisterschaft ihrer Instrumentierung mit Richard Strauss konkurrieren kann. Allerdings braucht es im Orchester zu ihrer Umsetzung eine enorme Wachheit, Spritzigkeit und Präzision, was bei der Premiere dem Berner Sinfonieorchester doch in beträchtlichem Mass abging. Und wenn der Dirigent Srboljub Dinic, der diesmal die dynamischen Entwicklungslinien plastischer und stringenter herausarbeitete als auch schon, die Akzente und Fortissimo-Wellen anbranden liess, dann klang das blechbläsergesättigte Tutti sehr schnell plump und grobschlächtig anstatt zu strahlen oder auch nur kurz gefährlich aufzublitzen.

Strahlender Tenor

Einem konnte das alles gar nichts anhaben: Schlicht sensationell wie der Tenor Niclas Oettermann die zentrale Partie des Paul gestaltete und von A bis Z durchhielt. Seine Partnerin Mardi Byers als Marietta stand ihm kaum nach, einzig gewisse Schärfen in der Höhe konnte sie nicht vermeiden. Da auch Gerardo Garciacano als Frank und Anja Schlosser als Brigitta sowie das muntere Commedia-dell’arte-Quartett sängerisch mithalten konnten, blieben in dieser Beziehung keine Wünsche offen.