Ein Traum, der die Fesseln löst

Herbert Büttiker, Der Landbote (04.04.2011)

Die tote Stadt, 01.04.2011, Bern

Korngolds Oper «Die tote Stadt» ist eine Rarität und eine grosse Herausforderung. Das Stadttheater Bern fesselt mit einer musikalisch-szenisch intensiven Traumpsychologie.

Die tote Stadt ist Brügge. Sie steht für die Melancholie des allgegenwärtigen dunklen Wassers und den Glanz vergangener Herrlichkeit, für eine unvergängliche Liebe und morbiden Zauber. Erich Wolfgang Korngold (1897–1957), das grosse musikalische Wunderkind der Wiener Jahrhundertwende, war ein junger Mann, als er auf den Stoff hingewiesen wurde. Es war die Zeit des Ersten Weltkriegs, die seelische Macht der Toten, die Rechte des Lebens, Trauer und Erotik waren die Themen, die er beim belgischen Symbolisten Georges Rodenbach fand.Es geht um einen Mann, in der Oper Paul, der sich ganz in der Erinnerung an seine jung verstorbene Frau Marie eingräbt. Als er der Tänzerin Marietta begegnet, die Marie aufs Haar gleicht, glaubt er, diese sei ins Leben zurückgekehrt. Im Traum werden Wahn und Skrupel zum explosiven Gemisch. Er tötet Marietta – und erwacht. Jetzt kann er aus der «Kirche des Gewesenen» hinaus treten, Brügge verlassen.

Eine überdimensionierte Ausstellungsinszenierung schiebt sich in den Wohnraum, den Stefanie Pasterkamp auf der Berner Bühne mit grossen beweglichen Elementen andeutet. Auf suggestive Weise gelingt die Verwandlung zur Traumbühne des zweiten Aktes zu einem der grossartigen Tongemälden der Oper, dem Glockengeläut zugleich real und als Modell für Harmonie, Farbe und Rhythmus zugrunde liegt. Das Berner Symphonieorchester meistert hier wie überhaupt unter der Leitung von Srboljub Dinic seine enorm vielschichtige und anspruchsvolle Aufgabe imponierend. Man glaubt mitzuvollziehen, wie dem jungen Komponisten alles nur so zugeflogen zu sein schien, die üppige Harmonik der Spätromantiker, die Koloristik der Impressionisten, die expressive Melodik der Veristen und auch das süffige Operettenlied.

Süsses Gift

Dass das grossartige Stück selten aufgeführt wird, hat mit den Ansprüchen an das Orchester und die Protagonisten auf der Bühne zu tun. In der Berner Aufführung machen auch die kleineren Rollen gute Figur, unter ihnen Anja Schlosser als Pauls treue Haushälterin und Gerardo Garciacano als Frank, Pauls Freund und Rivale im Traum, wo sich der Bariton mit könnerischem Schmachten produziert. Beste Karten hat das Stadttheater für das Protagonistenpaar Paul und Marietta. Mit dem Lied «Glück, das mir verblieb» über die Unvergänglichkeit der Liebe träufeln sie das süsseste melodische Gift in die seelische Wunde, um die es in diesem Stück geht.

Aber der berühmte Schlager ist «nur» ein Lied, das in der Oper inszeniert und befragt wird, und den Stimmen wird auch weit weniger Süffiges abverlangt. Der Tenor Niclas Oettermann meistert die emotionalen Extreme seiner Figur in grossen Intervallspannungen und weiten Phrasen mit schönem Klang und voller Vehemenz. Das sucht seinesgleichen, und zum Charakter des sensiblen, in sich verstrickten Menschen passt sein zurückhaltendes Spiel. Um so spannender der Kontrast zu Marietta, der Mardi Byers sängerisch souverän und ostentativ den erotisch exaltierten und extrovertierten Auftritt verschafft, aber auch – und das macht die Figur hier spannend – den leuchtend fernen Klang der Marie sowie den kämpferischen Willen einer jungen Frau, die nicht nur Projektionsfigur sein will und damit Paul provoziert wie eine Nachfahrin Carmens.

Gabriele Rechs Inszenierung zeigt in der Arbeit mit den Protagonisten ihre besondere Stärken und lässt sie zu prägnantem gestischem Ausdruck der psychischen Konflikte finden und auch für offen Sexuelles und religiöse Kasteiung, wie es sich besonders im dritten Akt bis zur Katastrophe aufschaukelt. Reisserisch gemacht ist das alles aber nicht, auch die Mordszene nicht, die ja gleichzeitig ein Erwachen ist. Die klare Handschrift bewährt sich schön in der Schlussszene: die stille Rückkehr ins Leben, die Auflösung des romantischen Komplexes – «Leben trennt von Tod grausam Machtgebot» – in der letzten Liedstrophe. Ein helles Bild.