Daniel Allenbach, Der Bund (04.04.2011)
Ein Tagtraum mit halsbrecherischen Partien: Erich Wolfgang Korngolds «Die tote Stadt» hat dem Stadttheater Bern eine umjubelte Premiere beschert.
Gerade mal eine Dreiviertelstunde dauert die Oper in Echtzeit – und füllt doch den ganzen Abend. Der ausgedehnte Mittelteil von Erich Wolfgang Korngolds «Die tote Stadt» spielt sich nämlich nicht in Realzeit, sondern innerhalb von vielleicht fünf Minuten im Unterbewusstsein des Protagonisten ab, in das dieser gemeinsam mit dem Publikum für anderthalb Stunden abtaucht.
Paul, ein Witwer, der in einer Art Archiv Reliquien seiner verstorbenen Frau Marie aufbewahrt, trifft auf die Tänzerin Marietta, die der Toten aufs Haar gleicht. Die Leidenschaft zur Lebenden mischt sich mit Schuldgefühlen der Verstorbenen gegenüber und mündet in einem Tagtraum, der nach allen möglichen Stadien von Liebe, Eifersucht und moralischen Skrupeln in der Erwürgung von Marietta gipfelt. Aus seiner Vision erwachend, kündigt ihm die Haushälterin die Tänzerin an, die bei ihrem Aufbruch vor wenigen Minuten den Schirm vergessen hat. Paul beschliesst, sich von der Verstorbenen (und der ihr ähnelnden Lebenden) zu lösen und aus der Stadt des Todes wegzuziehen.
Rauschhafte Klänge
Dieses symbolistische Traumspiel aus der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert basiert auf einem Roman des französischen Autors Georges Rodenbach, den der Wiener Musikkritiker Julius Korngold zu einem Libretto verarbeitete. Sein Sohn Erich Wolfgang – zunächst kompositorisches und pianistisches Wunderkind, später bekanntester Filmmusikkomponist der Epoche und schliesslich von der sich rasend entwickelnden Musikgeschichte beinahe vergessen – schrieb auf diesen Text eine unerhört expressive Musik, die man mit Richard Strauss und Puccini vergleichen kann. Das von Srboljub Dinic geleitete Berner Symphonieorchester meistert die heiklen Aufgaben von Korngolds Partitur über weite Strecken souverän und begeistert mit zahllosen spätromantischen Orchesterfarben. Schade ist einzig, dass aufgrund des zu kleinen Orchestergrabens die Streicherregister unterrepräsentiert sind, was sich immer wieder in einer nicht ganz idealen Balance innerhalb des Orchesters zeigt. Besonders wenn Geigen oder Celli geteilt sind, vermisst man einen dichten, warmen Mischklang gegenüber den schön gestaltenden Bläsern.
Totaler Einsatz der Sänger
Auch für die Sängerinnen und Sänger sind die Partien geradezu halsbrecherisch. Ganz besonders für Niclas Oettermann, der in der Hauptrolle des Paul fast den ganzen Abend ununterbrochen auf der Bühne präsent ist. Mit totalem Einsatz nimmt er sich dieser Herkulesaufgabe an und begeistert durch seinen strahlkräftigen Tenor, der dem Orchester jederzeit Paroli zu bieten vermag. Während die Artikulation in den leisen Passagen etwas schwammig wirkt, ist seine Textverständlichkeit ansonsten vorbildlich. Vor allem aber gestaltet er beeindruckende Legato-Passagen, die Korngolds ausdrucksstarke Musik bestens zur Geltung bringen. Diese weit ausschwingenden, fliessenden Melodiebögen vermisst man teilweise bei Mardi Byers, die mit ihrer hoch sitzenden Stimme zudem gelegentlich Mühe hat, gegen das Orchester anzukommen. Mag man auch stimmlich einige Vorbehalte hegen, ihre schauspielerische Leistung und Präsenz sind zweifellos grossartig. Mit ganzer Seele verkörpert sie die lebenslustige, naive und gleichzeitig sich ihrer Wirkung sehr bewusste Marietta, die den mit bigotten Zügen ausgestatteten Paul zu fesseln vermag.
Als Pauls Freund – und im Traum Nebenbuhler – Frank/Fritz trägt Gerardo Garciacano seinen sanften, klaren Bariton bei, der nicht nur in der sentimentalen Romanze im zweiten Bild eine gute Figur macht. Mit Anja Schlosser ist auch die zurückhaltende Haushälterin Brigitta szenisch und stimmlich aufs Beste besetzt, derweil Anne-Florence Marbot, Rebekka Maeder, Andries Cloete und Tomi Kuusisto ein schräges und gut disponiertes Artistenquartett abgeben. Unterstützt werden sie für die monumentale Fronleichnamsprozession zudem vom Chor (Einstudierung Tarmo Vaask) und dem Kinderchor der Musikschule Köniz.
Schwarz-weisse Szenerie
Das schlichte Bühnenbild von Stefanie Pasterkamp bietet durch seine Spiegelung eine beeindruckende Zahl von Möglichkeiten: Während die realen Räume weiss gehalten sind, werden die grossen Wandelemente für die Traumsequenz einfach gedreht und sind dann schwarz. Durch diese klare Trennung, offene Umbauten, die schrägen Kostüme von Gabriele Heimann sowie wirre szenische Versatzstücke und freudsche Symbole wird die unwirkliche Atmosphäre des Traums zusätzlich betont.
Insgesamt liefert die Inszenierung von Gabriele Rech eine überzeugende Lesart, die allerdings am Schluss zu kippen droht. Allzu rasch wird aus dem psychisch labilen Paul innert Minuten ein hoffnungsvoll in die Zukunft schreitender Mensch. Eine Dreiviertelstunde und ein reinigender Traum sind halt gar kurz für eine solche Entwicklung.