Maria Künzli, Berner Zeitung (04.04.2011)
«Die tote Stadt» des österreichisch-amerikanischen Komponisten Erich Wolfgang Korngold feierte am Stadttheater Bern umjubelte Premiere – mit herausragend besetzten Hauptrollen und einem Orchester im Rausch der Klänge.
Paul ist ausser sich. Gerade ist er zum ersten Mal Marietta begegnet, die seiner verstorbenen Frau unglaublich ähnlich sieht. Ihr Haar, ihr Duft, ihre Stimme! Marie scheint zurückgekehrt. Nun wartet er – vom Glück beflügelt, vom Wahn aber schon umgarnt – auf den Besuch der vertrauten Fremden. Hier, in seiner klinisch musealen Wohnung, die mehr Gedenkstätte als Zuhause ist, beginnt Pauls Albtraum: eine Reise in tiefste menschliche Abgründe, die gleichzeitig aber die Rückkehr ins Leben bedeutet. Erich Wolfgang Korngolds Oper «Die tote Stadt» ist eine düstere Gratwanderung zwischen Traum und Wirklichkeit, mit Musik voller Überschwang, Drastik und rauschhafter Emotionalität. Der österreichisch-amerikanische Komponist war gerade mal 22 Jahre alt, als er sein bekanntestes klassisches Werk schrieb. «Die tote Stadt» basiert auf der schaurigen Geschichte des Romans «Das tote Brügge» von Georges Rodenbach. Musikalisch steht Korngold (1897−1957), der 1938 wegen seiner jüdischen Wurzeln nach Amerika auswanderte und als Filmkomponist Karriere machte, irgendwo zwischen Strauss, Puccini und Wagner.
Das 1920 uraufgeführte Werk wurde nach einem erfolgreichen Start Jahrzehnte lang kaum, in den letzten Jahren aber wieder häufiger auf die Bühne gebracht. Nun feierte «Die tote Stadt» am Stadttheater Bern in der Inszenierung von Gabriele Rech umjubelte Premiere. Die deutsche Regisseurin versetzt das Werk, das Ende des 19. Jahrhunderts in der heruntergekommenen ehemaligen Handelsstadt Brügge spielt, sanft in die Moderne (Bühne: Stefanie Pasterkamp). Pauls Wohnung gleicht einem gesichtslosen Appartement mit weissen Wänden, grauen Rollläden und grellem Neonlicht. Im Gegensatz dazu sind die Traumszenen – der überwiegende Teil der Oper – in dunkle Töne getaucht: dicke, schwarze Wände werden mal dicht nebeneinander, mal zum Dreieck und mal ineinandergeschoben. Ohne grelle Effekte entstehen wirkungsvolle Bilder, die Pauls innere Bedrängnis, die zwischen Frömmigkeit und Wahn, Traum und Wirklichkeit baumelnde Seele treffend widerspiegeln. In der Feinarbeit hat Gabriele Rech allerdings nicht immer ein glückliches Händchen: Schade beispielsweise, dass lediglich ein profaner Diaprojektor Pauls vielschichtige Erinnerungen symbolisieren soll. Das Ensemble hat keine leichte Aufgabe: Korngolds Partitur ist gesanglich äusserst anspruchsvoll und fordernd. Hinzu kommt, dass die Hauptfiguren Paul (Niclas Oettermann) und Marietta (Mardi Byers) in Rechs Inszenierung immer wieder minutenlang auf sich alleine gestellt sind. Nur Sänger, die gleichzeitig auch profilierte Darsteller sind, können diese Aufgabe meistern. Und tatsächlich: Niclas Oettermanns satter und kraftvoller Tenor geht einher mit einer differenzierten Mimik und beeindruckender Bühnenpräsenz. Mardi Byers hat etwas mehr Mühe, sich gegen das hervorragend agierende, aber manchmal etwas zu laute Berner Symphonieorchester zu behaupten. Dennoch sticht auch sie mit ihrem strahlenden und warmen Timbre aus dem insgesamt überzeugenden Ensemble heraus.
Das Berner Symphonieorchester zeigt sich unter der Leitung von Srboljub Dinic in ausgezeichneter Form: In ordentlichem Tempo und mit viel Elan interpretiert es Korngolds gewaltige Musik, geht auf in den weit schweifenden Melodiebögen, in der harmonietrunkenen und unmittelbar wirkenden Klangwelt. Da verzeiht man Dinic auch, dass er bei dieser rauschhaften Musik ab und zu übers Ziel hinausschiesst. Denn am Ende war ja alles nur geträumt.