Psychologisch adäquat

Alfred Zimmerlin, Neue Zürcher Zeitung (06.04.2011)

Die tote Stadt, 01.04.2011, Bern

Er war ein genialisch begabter Junge, der österreichische Komponist Erich Wolfgang Korngold, als er dreiundzwanzigjährig 1920 seine Oper «Die tote Stadt» in Uraufführung vorlegte. Farbig, mit erstaunlicher Charakterisierungskunst ist die Partitur geschrieben. Und doch ist es ein Stück wie aus einer andern Zeit: 1920 hatte Richard Strauss «Salome» und «Elektra» längst geschrieben, Alban Berg war im Begriff, «Wozzeck» zu vollenden, Janáček komponierte «Kátja Kabanová». Mit rauschhaft süffiger Musik und einer morbid-depressiven Stimmung zwischen Libido und Todessehnsucht hatte Korngold indes eher eine Oper für das österreichische Fin de Siècle geschaffen.

Wie obsessiv könnte eine Inszenierung die Geschichte des jungen Witwers Paul ausleben, der voller Verlangen nach seiner verstorbenen Frau Maria in der «toten Stadt» Brügge in seiner Vergangenheit lebt und durch die Begegnung mit einer Doppelgängerin der Toten, der Tänzerin Marietta, zu einem kathartischen Tagtraum bewegt wird. Gabriele Rech, die mit Stefanie Pasterkamp (Bühne) und Gabriele Heimann (Kostüme) das Werk am Stadttheater Bern inszeniert hat, tritt nicht in diese Falle. Sie unterspielt das Werk tendenziell und überlässt den Rausch der Musik, was der Dirigent Srboljub Dinić mit dem Berner Symphonieorchester überraschend zu geniessen weiss.

Mit grossem Atem lässt er die Musik strömen, schön mischt er die Farben und sorgt trotz enorm aufwendigem Apparat für eine gute Klangbalance und eine hinreichende Koordination mit dem Gesang. Die Bühne ist einfach gehalten, im realen Leben in hellem Weiss mit schwarzen Akzenten, in der Traumsequenz gleichsam als Negativ in Schwarz. Mobile Wände und ein gigantischer fahrbarer Reliquienschrein sorgen für Wandelbarkeit. In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist das stilistisch angesiedelt, Mariens Bild etwa wird mit einem Carrousel-Diaprojektor an die weisse Wand geworfen. Und das Brügge der Traumsequenz erscheint mit hohem Abstraktionsgrad.

Darin aber lässt Gabriele Rech das Geschehen behutsam und auch psychologisch adäquat sich entwickeln, es entsteht ein atemberaubender Sog. Dennoch finden sich da und dort diese kleinen Irritationen, die notwendig sind, um Reflexion auszulösen. Endlich wieder einmal eine intelligente Inszenierung, die vom ersten bis zum letzten Moment durchdacht und stimmig wirkt – und das Stück weitaus besser macht, als es ist. Die Figur Pauls ist eine immense Rolle für hohen Tenor, die Niclas Oettermann am Premierenabend mit wachsender Bravour meisterte. Er fand zu strahlendem Glanz, aber auch einer eindrücklichen gestalterischen Innigkeit. Farbig und warm war der Sopran von Mardi Bryars, wunderbar geeignet für die Rolle der Marietta, die sie musikalisch und schauspielerisch aufs Schönste mit prallem Leben erfüllte; einziges Minus: ihre oft unverständliche Diktion. Ausgezeichnet auch die beiden grösseren Nebenrollen: Anja Schlosser gab eine bewegende Brigitta und Gerardo Garciacano mit kräftigem Bariton einen bemerkenswerten Frank.