Eine «West Side Story» mit viel Lust und etwas Albernheit

Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (11.04.2011)

West Side Story, 09.04.2011, Luzern

Mit einer fulminanten Inszenierung von Leonard Bernsteins Musical «West Side Story» zeigte das Luzerner Theater am Samstag eindrücklich, wie man auch ein stark von bestehenden Bildern geprägtes Stück ganz neu und aktuell sehen kann.

Wer Leonard Bernsteins berühmtestes Stück, das Musical «West Side Story», auf die Bühne bringen will, kämpft vor allem mit einem: Kaum jemand hat den berühmten, mit zehn Oscars ausgezeichneten Film von Robert Wise und Jerome Robbins nicht gesehen. Natalie Wood und Richard Beymer, die Kämpfe und Tänze und das Manhattan der Fünfzigerjahre sind noch immer präsent.

Doch gegen diese Filmbilder in den Köpfen des Publikums hat die Regisseurin Tatjana Gürbaca mit sicherer Hand eine überzeugende Antwort gefunden: Zum einen verzichtet sie auf jede Dekoration, Werner Hutterli baute nichts weiter als einen quadratischen Podest auf die Luzerner Bühne. Sonst sieht man nur Bühnentechnik, Scheinwerfer und Stühle am Rand, auf denen es sich das ganze Ensemble bequem macht, wenn es nicht auf dem Podest in der Mitte beschäftigt ist.

Mühelosigkeit, die staunen macht

Radikale Abstraktion der Dekoration also, aber keineswegs in den Mitteln des Theaters: Sobald die Schauspieler, Tänzer und Sänger das Podest betreten, verwandeln sie sich in Jets, Sharks oder verliebte Protagonisten, und das mit einer Präzision, die schier atemberaubend ist. Die Choreografien von Kinsun Chan sind virtuos, wirblig und präzise und im Timing perfekt wie auch Gürbaca jede Nummer, jeden Auftritt im turbulenten Stück, das stark auf kontrastierende Stimmungen zwischen witzigen und emotionalen Momenten setzt, punktgenau von Anfang bis Ende detailreich führt.

Jede Szene kommt bei Gürbaca ohne Abstrich zu ihrem Recht: Ob ein einziger Darsteller mit wenigen Worten oder das ganze Ensemble in den turbulenten Balletten, ob Liebesduett oder der tragische Moment der Verzweiflung – alles stimmt und wird mit wenigen Requisiten und innerhalb kürzester Zeit mit einer Mühelosigkeit auf die Bühne gestellt, die staunen macht.

Virtuoses Theater-Ensemble

Die Wirkung ist frappant: Die Zuschauer sind Zaungäste bei einem virtuosen Theater-Ensemble, das mit dem Material von Bernsteins «West Side Story» spielt, mit vielen Ideen und Fantasie austestet, was davon auf welche Weise umgesetzt werden könnte; mit viel Lust und ein bisschen Albernheit, Bricolage à discrétion, aber auch mit dem Atem für die tragischen Momente.

«Gee, Officer Krupke» wird zur umwerfenden Glanznummer für das Männerquartett, «I feel pretty» zum neckisch überdrehten Spiel der Mädchen. Schauspieler, Sänger, Tänzer mischen sich, Samia von Arx etwa spielt die Anita nicht nur hervor ragend – bis hin zur Vergewaltigungsszene, die trotz athletisch-tänzerischer Verbrämung Eindruck macht –, sondern sie singt sie auch respektabel. Die Opernstimme von Simone Stock macht sich in der Rolle der Maria bestens, bis hin zum tragischen Ende, das sie ganz allein trägt und dabei weder aufgesetzt noch larmoyant wirkt. Wie sie vorher die schönen Songs der Maria trägt, begeistert ebenso wie die souveräne Art, in der Daniel Prohasak den Tony singt.

Stilsicher durch alle Rhythmen

Im Orchestergraben hält Rick Stengards die Partitur trotz verletzter Hand souverän im Griff und führt das Orchester stilsicher in die Sphären von Jazz, Blues, Mambo und was Bernstein sonst noch alles an lateinamerikanischen Tanzrhythmen in seine Partitur verpackte.

Die Süsse wird nicht allzu sehr ausgekostet, die Tritonus- und Septim-Sprünge, die fast in jedem Takt Spannung erzeugen, formt Stengards schön aus, aber zerdehnt sie nicht. Insgesamt setzt er vor allem auf Rhythmus und Drive. So kann Bernsteins Musical auch 50 Jahre nach seiner Entstehung packen, und Shakespeares «Romeo und Julia»-Geschichte ist auch in dieser Form im 21. Jahrhundert angekommen.