Herbert Büttiker, Der Landbote (11.04.2011)
Aktuell ist die «West Side Story» ohnehin. Im Theater Luzern ist Bernsteins Musical ein Aufschrei gegen den Triumph der Gewalt.
Das Bühnenbild ist «nur» eine Tanzfläche und auch die Kostüme halten Ort und Zeit des Geschehens weit offen. Gleich schon der Prolog mit dem Auftritt der verfeindeten Gangs zeigt: Ausdrucksstarkes Tanz- und Körpertheater bestimmt den Abend. Die grosse fünfteilige «Ballet Sequence», die wie eine mächtige Fermate im zweiten Akt das Stück überwölbt, ist dann ein ganzes Tanztheater für sich, das der Choreograf Kinsun Chan sehr ideenreich, sehr bezwingend gestaltet.
Die «West Side Story» erzählt die Geschichte von Romeo und Julia in einem New Yorker Viertel der Gegenwart. Leonard Bernsteins musikalisches Feuer entzündete sich an den lateinamerikanischen Rhythmen («Mango»!), die dank dem Bandenkrieg zwischen den Weissen und den Einwanderern aus Puerto Rico aufs Tapet kamen. Stephen Sondheim schrieb die Songtexte und Artur Laurents fand neue dramaturgische Lösungen für die Shakespeare-Szenen.
Die Produktion des Teams Tatjamna Gürbace (Inszenierung), Werner Hutterli (Bühnenbild), Ingrid Erb (Kostüme) geht von der Choreografie aus. Aber die Produktion beeindruckt dann vor allem in der Art und Weise, wie leicht und selbstverständlich es dem Dreispartenhaus gelingt, Tanz, Musik und Schauspiel zusammenzuführen. «I Feel Pretty» und dann vor allem auch «Gee. Officer Krupke» sind Kabinettstücke des Bewegungstheaters (mit Gesang), und die Kampf- szene zeigt, wie dieses Bewegungstheater, weit entfernt von einer realistischen Rauferei, gleichsam als Tanz der Messer alle Dynamik der Gewalt mit schockierender Drastik vor Augen führt.
Authentische Darsteller
Die Aufführung, die ein Spiel im Spiel ist, weil immer das ganze Ensemble um die quadratische Tanzfläche sitzt, lebt auch vom darstellerischen Profil Einzelner. Daniel Prohaska berührt als schwärmerischer Tony mit samtener Mittellage, Simone Stock mit der Anmut ihres Soprans, und beide vermitteln ihren Figuren untheatralische Echtheit. Intensive Körperpräsenz steht bei anderen im Vordergrund, so etwa bei Hans-Peter Gattikers Riff, Hajo Tuschys Gino, Samia von Arx’ Anita. In der Rolle von Doc und Schrank verkörpert Christoph Künzler pointiert und sec zwei Pole der Erwachsenenwelt.
Dass die Synthese aller Sparten auf der Kehrseite auch Mittelmass bedeuten kann, was die Präzision betrifft, liess sich an der Premiere ebenfalls beobachten. Auch akustisch könnte das Resultat homogener sein.
Vor allem aber war das herausfordernde Engagement aller an der Premiere als Verdichtung zu erleben und als konzentrierte Nähe zur Musik. Hier spielte das Luzerner Theater einen weiteren Trumpf aus: das Luzerner Sinfonieorchester fand nach kurzem Anlauf schnell zur rhythmischen Brisanz von Bernsteins Musik. Deutlich wurde unter der hellwachen Leitung von Rick Stengårds, dass Bernstein nicht nur ein Gespür für wirkungsvolle Themen und Melodien hatte, sondern auch eine bewegende Botschaft.