Sigfried Schibli, Basler Zeitung (12.04.2011)
Eine hinreissende Produktion von Bernsteins «West Side Story» am Luzerner Theater
Musical am subventionierten Theater: Geht das überhaupt? Dass und wie es geht, beweist das Luzerner Theater mit Leonard Bernsteins «West Side Story».
Der Unterschied zwischen Musical- und Opernaufführungen besteht in der Regel darin, dass Musical-Produktionen in ihrer szenischen Erscheinung bis ins kleinste Detail festgelegt und festgeschrieben sind, während in der Oper eine Freiheit der szenischen Deutung besteht, die von einem Teil der Zuschauer als schöpferisch, von einem anderen Teil als willkürlich angesehen wird.
So unterliegen zum Beispiel die Musicals von Andrew Lloyd Webber einem rigorosen ästhetischen Reglement, das sie weltweit standardisiert erscheinen lässt, während Inszenatoren älterer und neuerer Opern im Grunde auf der Bühne anstellen können, was sie nur wollen. Wenn Musicals den Weg auf unsere subventionierten Theaterbühnen finden, darf man daher jedes Mal gespannt sein, ob die konservierende oder die kreative Richtung eingeschlagen wird.
Im Falle von Leonard Bernsteins «West Side Story» von 1957 im Luzerner Theater ist eindeutig Letzteres der Fall – zum Vorteil des Stücks. Die örtlichen Verhältnisse – das Stück spielt in New York – werden ebenso wenig betont wie die «rassischen» Unterschiede der beiden im Strassenstreit liegenden Gangs, der puerto-ricanischen Sharks und der einheimischen Jets. Diese unterscheiden sich nur in der Farbe der (von Ingrid Erb wunderbar vielfältig designten) Kostüme.
paraphrase. Maria (in der Premiere die lupenrein singende Simone Stock) und ihr Lover Tony (Daniel Prohaska mit präzis geführtem Tenor) sind beides Weisse, der Konflikt zwischen den beiden Lagern – das Stück ist klar eine Romeo-und-Julia-Paraphrase – wird aufs rein Menschliche zurückgeführt. Und die von Werner Hutterli kunstvoll leer gelassene Bühne, auf der nur eine grosse Spielfläche, eine Kletterwand und eine beeindruckende, wie ein schwerer Schicksalsschlag herunterfahrende Scheinwerferbatterie übrig geblieben sind, vermittelt keinerlei Lokalkolorit.
präsenz. Das lässt viel Raum fürs Wesentliche: für die Tanzaktionen auf der Bühne. Kinsun Chan hat aus den Luzerner Tänzerinnen und Tänzern, Sängerinnen und Sängern ein packendes Ensemble geformt, das choreografisch ein Höchstmass an Tanzleidenschaft, Sportsgeist und Tempo bietet. Fast möchte man da nicht unterscheiden zwischen Sängern, die auch tanzen, und Tänzern, die auch singen, weil im Grund alle alles können.
Eine Vielseitigkeit aller Mitwirkenden, die auch das Werk der Regisseurin Tatjana Gürbaca ist. Ihr ist der zweifelhafte Einfall des Hitlergrusses zweier Puertoricaner zu verdanken, ebenso aber die schöne Idee, immer das ganze Team auf der Bühne anwesend sein zu lassen. Das Luzerner Sinfonieorchester spielt unter Rick Stengårds so knackig frisch und frech, als wäre es auf Bernsteins jazzoide Neuklassik spezialisiert.
Am Ende viel verdienter Beifall für die höchst engagierte Produktion eines Stücks, das man eigentlich für nicht erneuerbar gehalten hatte, das aber in Luzern seine Überlebensfähigkeit auf der Stadttheaterbühne bewiesen hat.