Die schlimmen Buben in der Liebesschule

Wilhem Sinkovicz, Die Presse (09.05.2006)

Don Giovanni, 07.05.2006, Zürich

Don Giovanni in Zürich. Franz Welser-Möst eröffnet mit Sven-Eric Bechtolf neue Mozart-Perspektiven.

Zürich war in Sachen Mozart über viele Jahre hin eine Pilgerstätte für Musikfreunde, die an neuen Interpretations-Perspektiven interessiert waren. Nikolaus Harnoncourt war dort auf die großen Opern des Jahresregenten sozusagen abonniert - nun studierte Franz Welser-Möst als sechzigste (!) seiner Zürcher Premieren endlich eine der Da-Ponte-Opern ein. Und neuerlich darf man von einer Umwertung aller Mozart-Werte sprechen. Das klingt gleich wieder anders, frischer, lebendiger, doch auch gewichtiger als gewohnt.

Schluss mit dem Gehudel. Das scheint Welser-Mösts vordringlichstes Motto zu sein: Seine Tempodramaturgie lässt des öfteren aufhorchen. Wo in den vergangenen Jahren immer neue Geschwindigkeitsrekorde aufgestellt wurden, nimmt man sich plötzlich Zeit. So darf Anton Scharinger etwa die Registerarie nach Nuancen durchforsten und für charakterliche Feinabstimmung sorgen, womit die Figur des Leporello entschieden an Tiefgang gewinnt. Das nämliche gilt für die Solo-Szenen der Donna Elvira, die Malin Hartelius vorsichtig, aber mit großem Ausdruck gestalten darf. Auch die Holzbläser des Zürcher Opernorchesters haben dank Mösts umsichtig modellierender Vorgangsweise Zeit und Möglichkeit, alle verschmitzten und sensiblen Fußnoten anzubringen, mit denen Mozart sein psychologisches Gespinst versieht.

So stellt sich einer bewussten Verlangsamung des Grundzeitmaßes zum Trotz dank der Lebendigkeit und Vielgestaltigkeit der Einzelstimmen sogar der Eindruck subtilerer, bunterer Komödiantik und größerer Dynamik ein. Der Ablauf ist von höchster Innenspannung und entwickelt sich bis zur musikalisch atemberaubend intensivierten Höllenfahrt zwingend. Damit kann Sven-Eric Bechtolfs Regie nicht ganz mithalten, wenn sie auch von zeitweise fanatisch zugespitzter Dramatik ist und die Möglichkeiten realistischen Spiels wie surrealer Bühneneffekte virtuos nützt.

Den Don Giovanni, Simon Keenlyside, zeigt uns die Regie als schlimmen, verzogenen Buben, der sich oft selbst über seine magische Anziehungskraft auf die Frauen zu wundern scheint, doch ohne jede Scham seinen hormonellen Profit aus ihr zieht.

Piotr Beczala, stimmlich reifer, mehr an Verdis Schmelz und Espressivo als an Mozarts klassischer Linienführung geschulter Don Ottavio, bildet zu diesem Anarchisten den politisch korrekten Gegenpol; mag er auch mit allem Recht haben, was er sagt und sinnt - in den virtuos bewältigten Koloraturen der B-Dur-Arie zumal - gegenüber dem rechtlosen Zustand, den die normative Kraft der faktischen Anwesenheit des Don Juan heraufbeschwört, ist jegliche Moral- und Justiz-Vorstellung machtlos. Da wird der brave Mann zum geborenen Verlierer; auch seiner geliebten Donna Anna gegenüber: Wenn Ottavio in ihre Arme sinken will, senkt der Regisseur rasch den Vorhang zwischen die beiden.

Manch heikles Ensemble in Mozarts Beziehungsgeflecht deutet Bechtolf auf diese Weise penibel und mit szenischem Feinschliff. Vor der Macht der Metaphysik aber versagt sein Zugriff. Aus dem steinernen Gast wird eine harmlose Voodoo-Figur aus Holz. Das wirkt in katholischen Landen noch immer nicht, mag Keenlyside auch noch so schmerzerfüllt im kühl goldglitzernden Art Deco Ambiente Rolf Glittenbergs zusammensinken: Die kalten Schauer jagt dem Zuschauer die Musik über den Rücken, Chor, Orchester, der dumpf dröhnende Komtur des Alfred Muff und Anton Scharingers bis ins apokalyptische Entsetzen hinein genau artikulierender Hasenfuß.

Interessanterweise drückt sich der Regisseur vor allem vor den hintergründigen Szenen, die das Werk umrahmen. Nebst der Höllenfahrt ist auch der erste, viel diskutierte Auftritt Donna Annas und Giovannis uninszeniert, geht in einem Statisten-Gewirr unter, das nur den Blick auf einen verwirrten Kuss freigibt: Anna küsst den Unhold. Aber weiß sie, wer er ist? Und dass es derselbe ist, den sie eben als Wüstling verfolgt hat? Die seit der Romantik heftig diskutierte Frage nach der tatsächlichen Beziehung zwischen diesen beiden Figuren will Bechtolf so wenig beantworten wie viele seiner Vorgänger.

Doch gelingt ihm in der Folge eine spannend entwickelte Produktion, die im entscheidenden Moment doch der Musik den Vorrang lässt, was außer der spitz und dünn tönenden Anna von Eva Mei so gut wie alle Solisten wunderbar nutzen, nicht zuletzt das Bauernpaar, dem Reinhard Mayr und vor allem die beseelt singende Zerline der Martina Jankova herzhaftes Profil verleihen.