Virtuos wie ein Salto – aber ohne mortale

Anna Kardos, Tages-Anzeiger (27.04.2011)

Un Ballo in Maschera, 25.04.2011, Zürich

Die Zürcher Inszenierung von Verdis «Un ballo in maschera» nimmt das Libretto beim Wort: Aus der Tragödie wird eine Komödie.

In «Rigoletto» gibt es einen, «Aida» schlägt mit zweien zu Buche, genauso «Othello», und der «Trovatore» hält den Rekord gleich mit einer Handvoll: Bühnenmorde in Giuseppe Verdis Opern. Da wird erdolcht, erdrosselt und ermordet, dass dagegen so mancher Krimi ein- packen kann. Als gäbe es ein ungeschriebenes Gesetz, wonach man die haarsträubende Handlung in Kauf nehmen muss, wenn man Verdis Musik hören will. Der «Ballo in maschera» hält sich mit einem Mord im soliden hinteren Mittelfeld – auch hier ist das Böse keine böse Überraschung.

Verdi-gewohnt lehnt man sich also im Samtsessel des Zürcher Opernhauses zurück und harrt der erfreulichen und weniger erfreulichen Dinge, die da kommen. Erst recht, als der Protagonist vor den Vorhang tritt, in einem Kostüm, das dem Fundus der Mailänder Scala zu entstammen scheint. Dann hebt sich der Vorhang. Und statt in der typischen «tragedia moltissimo emozionale» findet man sich in einem märchenhaften Zauberkabinett wieder.

Der Monarch als Marionette

Es fängt schon im Orchestergraben an. Unter Nello Santis Leitung ist in der Ouvertüre wenig italianisierendes Klischee zu hören. Statt vibrierend vor Emotionalität ist der Klang kompakt, ja beinahe kühl. Und in gehaltenem Tempo tänzelt das Thema leierkastenartig dahin – als würde es von einer überdimensionierten Spieldose gespielt.

Eine Etage höher dazu passend die plüschige Guckkastenbühne (Raimund Bauer), worin die Protagonisten teilweise wie Marionetten an Fäden hängen. Und auf einem überdimensionierten Thron in kurzen Samthosen und weissem Bubikragen (Kostüme Marie-Jeanne Lecca): Gustav, der kindliche König. Er schlackert mit den Beinen und unterhält sich mal mit seinem Pagen, mal mit einem Kasperl auf seinem Arm. Der Monarch als Marionette seiner Herrscherrolle? Oder: Wer ist hier der eigentliche Kasper?

Wer das weiss, der weiss viel in «Un ballo in maschera». Bereits der Titel kündigt an, dass es nur eine Haaresbreite ist, die die Maskerade vom wahren Gesicht, die Tragödie von der Komödie und die Realität vom Märchenspuk trennt. Geradezu grandios verstand es Verdi, in dieser Oper musikalische Stimmungen umschlagen zu lassen. Wo sich eben noch Seufzer entspannen und Leidenschaft in Töne gegossen werden, hüpfen im nächsten Augenblick die Melodien in heiteren Koloraturen (so leichtfüssig, dass sie dem Chor zuweilen ein wenig davonspringen). Ein Takt oder Ton, und die Welt ist aus den Fugen. Oder genau andersrum: Eben noch vor Schreck erstarrt, weil die Wahrsagerin Ulrica (mit sattem Mezzo interpretiert von Yvonne Naef) ihm den baldigen Tod verkündet, lacht König Gustav auf. Dass er ausgerechnet durch die Hand seines besten Freundes sterben soll, sei ja wohl der beste Scherz seit langem. Die Rolle des kindlich-strahlenden Königs scheint Piotr Beczala wie auf den Leib geschneidert, so viel Herz legt der Tenor in seine Stimme. Und die leise aufkeimende Kritik über angeschluchzte Töne oder den etwas generösen Umgang mit Unsauberkeiten weiss er mit glänzenden Phrasen in Grund und Boden zu singen.

Zur verdischen Grundkonstellation gehören aber meistens zwei. Zwei, die sich nicht lieben dürfen. Und so verzehrt sich natürlich auch Gustav aus der Ferne für Amelia. Dass sie verheiratet ist und ihr Mann ausgerechnet Gustavs bester Freund, macht die Sache nicht eben einfacher. Was bleibt den Liebenden da anderes übrig, als zu verzweifeln, den Freund und Ehemann zu hintergehen oder im Falle der Frau als freudsche Hysterikerin über die Bühne zu taumeln? Fiorenza Cedolins als Amelia entscheidet sich für Letzteres. Den gepflegten Hang zum Melodram mag sie auch beim Singen nicht ganz ablegen, doch verflechtet sie ihn dort mit sorgfältiger Technik, sängerischer Klarheit und bewusst gestalteten Melodien.

Und so unrecht hat sie nicht: Der Stoff ist nämlich geradezu ein Tummelfeld für emotionale Eruptionen aller Art. Nur dass die Inszenierung von David Pountney, statt in aufgewühlten Gefühlswelten zu wandern, einen anderen Weg wählt: den des grössten Ausstattungsaufwandes. Bei ihm wird alles zur gigantischen, sinnlich-opulenten Maskerade, zur Inszenierung der Inszenierung, die immer wieder durchblicken lässt, dass alles nur ein Spiel ist. Und wenn man es als Zuschauer schafft, das Fehlen der Brisanz oder eines Aktualitätsbezuges hinter sich zu lassen, bietet sich einem ein Zirkusmärchen, so facettenreich wie ein Spiegelkabinett, so erstaunlich wie ein Zaubertrick und so wohlig-gruselig wie Halloween.

Doppelbödig bis zum Schluss

Genau als solcher gibt sich dann auch der Maskenball im dritten Akt, in dem sich die Lage final zuspitzt. Und als der glockenhelle Koloratursopran des Lieblingspagen Oscar (mit viel spitzbübischem Talent und ebenso viel Sorgfalt gespielt und gesungen von Sen Guo) die Verkleidung des Königs ausplappert, da müsste das Verhängnis seinen Lauf nehmen – eigentlich.

Aber Pustekuchen: Unbemerkt hat sich bereits eine weitere Falltür geöffnet. Und man ertappt sich dabei, dass man einmal mehr an der Nase herumgeführt worden ist. Wie Gustav dem sicheren Tod entkommt und weshalb er in seiner letzten Arie dennoch texttreu «Im Angesicht des Todes . . .» singen kann – ohne dass Piotr Beczalas Tenor dabei auch nur einen Deut zu ersterben braucht –, das ist nur einer der vielen Kunstgriffe, die so virtuos sind wie ein Salto – aber eben ohne «mortale».