Tobias Gerosa, St. Galler Tagblatt (16.05.2011)
Gag an Gag und Wackler an Wackler: Bei der Premiere von Gioacchino Rossinis «Barbiere di Siviglia» am Theater St. Gallen achtet man auf vieles, aber zu selten auf die Musik oder die Geschichte.
Ach, die Komödie. Leicht soll sie wirken, lustig und mit Schwung und Esprit daherkommen. Gioacchino Rossini hat mit seinem «Barbiere di Siviglia» für die Oper eine Art Prototyp dafür geschaffen. Ein Prototyp, der tausendmal interpretiert wurde, der für viele eine der ersten Opernerfahrungen war und dessen Hits alle kennen: «Figaro, Figaro, Figaro!» Was kann man da noch Neues oder wenigstens Überraschendes dazu sagen, wenn man das Stück einstudiert? In der Neuproduktion, die am Samstag im Theater St. Gallen über die Bühne ging, leider nichts – entweder wollte man zu wenig oder zu viel, wahrscheinlich beides gleichzeitig, und versuchte die Angst vor dem eigenen Mut mit dem jeweils andern zu kompensieren.
Ensemble, das sich hören lässt
Dabei hat man ein Ensemble zusammengestellt, das sich hören lassen kann. Als Don Bartolo, der griesgrämige Alte, der vom jungen Liebespaar düpiert wird, kann David Maze mit seinem kernigen Bariton punkten, während der undurchsichtige Musiklehrer Don Basilio bei Federico Sacchi in der tiefen Lage zwar nicht sonderlich überzeugt, aber sonor eine starken Kontrast setzen kann. Zusammen mit Katja Starkes Berta, deren kurze Arie zum Besten an diesem Abend gehört, verstehen die beiden auch, ihre Rollen aus dem Text zu gestalten.
Dazu kommen zwei illustre Gäste: Anicio Zorzi Giustiniani, der mit seinem leichten und strahlenden Tenor in der exponiert liegenden Partie des Liebhabers Almaviva gewisse Anfangsschwierigkeiten hat, sich aber immer eindrücklicher freisingt. Man versteht, warum ihn Riccardo Muti an die Salzburger Pfingstfestspiele holt.
St. Gallen als Testfeld
Schon mehr Erfahrung an den Opern von Basel und vor allem München bringt Nikolay Borchev mit, der St. Gallen wohl als Testfeld für eine Rolle nutzt, die ein lyrischer Bariton draufhaben muss. Der Figaro wird aber vermutlich nicht seine Partie werden. Die komödiantische Leichtigkeit, das Selbstverständliche daran geht ihm zu klar ab und sein Bariton ist von zu weicher Textur, auch wenn er die Partie natürlich mit Eleganz und Verve meistert.
Trotz der Besetzung war bei der Premiere kaum ein Ensemble im Rhythmus, kaum ein Tempo sass auf Anhieb und Rossinis berühmte Accelerandi entwickelten bei Dirigent Stefan Klieme keinen Sog. Schon in der Ouverture fielen beim Sinfonieorchester St. Gallen störend viele Ungenauigkeiten auf. Zusammen mit den starren Tempi und einem immer wieder abbrechenden Spannungsbogen klang allzu vieles noch wie in einer Probe – oder wurde schlicht als weniger wichtig eingestuft als die Flut an Gags der Regie, die der Musik ab der bebilderten Ouverture förmlich die Show stehlen.
Geschichte vergessen
Denn die Inszenierung von Aron Stiehl setzt auf Pointen, hat aber kein Konzept, ja vergisst im ersten Akt sogar, eine Geschichte zu erzählen. Man muss kein Verfechter eines restaurativen Werktreuebegriffs sein, um die ganze Verlegung der Handlung in eine Schönheitsklinik als beliebig und leider keinen Moment einleuchtend zu bezeichnen. Über den Text setzt sie sich sowieso weg und auch inhaltlich stellen sich Fragen: Warum arbeitet das eingesperrte Mündel Rosina als Krankenschwester für ihren Vormund Bartolo? Vielleicht, weil sie so als dralle Karikatur auftreten kann?
Petya Ivanovas vor allem in ihrer grossen Arie «Una voce poco fa» sehr schrillen hohen Töne würden dazu passen – allerdings zeigt sie danach glücklicherweise auch, dass sie über einige Phantasie für Koloraturen und über eine geläufige Gurgel verfügt. Als Figuren bleibt sie wie alle andern (mit Ausnahme von Mazes Bartolo) aber eine Behauptung: Papp-Kameraden, um die Gags anzusteuern, für die beträchtlicher Aufwand betrieben wird. Berta und Basilio kommen gar zu Tode, erscheinen dann aber wie zufällig wieder, weil sie dummerweise noch etwas zu singen haben.
Eine Band von Mexikanern bahnt sich zur Ouverture den Weg durchs Publikum, man singt aus Mülltonnen und Badezubern und spricht auch manchmal ein paar Brocken Deutsch dazwischen. Wo immer ein Gag am Wege lauert, wird er sofort angesteuert. Sogar eine versehentlich gedrückte WC-Spülung soll für Lacher sorgen. Die Bühne, von Friedrich Eggert der St. Galler Theaterarchitektur nachempfunden, wird für solche Effekte immer wieder ein paar Meter hin- und hergeschoben, um neue Bühnenzimmer zu zeigen.
Zu lau, zu inkosequent
Rossinis Komödie als schräge Absurdität? Gerne, aber dafür ist diese Inszenierung zu lau, zu inkonsequent auch stilistisch zwischen Operettentanzschrittchen, plötzlicher Stilisierung, Maschinenfinali, naturalistischem Spiel und Überzeichnung. Aber ihre Witzchen haben weder mit der Geschichte noch mit ihren Figuren etwas zu tun. Immer wieder lenken gerade in den Arien unmotivierte Nebenaktionen ab. Paradoxerweise profitiert die Inszenierung von einem Problem im Stück. Wie den meisten Regisseuren fällt Stiehl hier nichts mehr ein. Aber wo das sonst jeweils stört, entwickelt das Stück seine Komik plötzlich aus sich selber.
Nach der Pause blieben einige Sitze leer und auch der Applaus blieb eher lau. Durchs Fenster von Bartolos Klinik sieht man aufs Meer. Dort sinkt ein Dampfschiff, immer und immer wieder. Wenigstens ein wirklich passendes Bild in und für diese ausser sängerisch gar nicht geglückten Premiere. Nur dass das Schiff immer an derselben Stelle untergeht, während die Oper szenisch wie musikalisch Schiffbruch erleidet.
Gag an Gag im «Barbiere di Siviglia» im Theater St. Gallen, nicht allen gefällt's.