Jürg Huber, Neue Zürcher Zeitung (16.05.2011)
Lila, Rosa, Gelb: Da muss man durch an diesem Abend im Theater St. Gallen. Auch pittoreskes Altstadtambiente sucht man vergeblich. Denn die späten sechziger, die frühen siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts mit ihrem zweifelhaften Geschmack sind optische Referenz für Aron Stiehls Neuinszenierung des «Barbiere di Siviglia». Situationskomik, Slapstick und surreale Elemente sind weitere Ingredienzien von Stiehls Regie, die Gioachino Rossinis Komödie mit Liebe zum Detail manch groteske Seite abgewinnt.
Raffiniert hat Friedrich Eggert, der auch für die bunten Kostüme verantwortlich zeichnet, dafür den sachlich-funktionalen Zuschauerraum des 1968 eröffneten St. Galler Theaters mit Sichtbetonelementen auf die Bühne weitergebaut. Ein trister Hinterhof ist Schauplatz für das frühmorgendliche Ständchen, das Almaviva der angebeteten Rosina darbringt, dann werden auf der Simultanbühne die Praxisräume des Doktor Bartolo mit grosszügiger Meersicht erkennbar.
Almavivas Nebenbuhler ist hier nicht ein trotteliger Kurpfuscher, sondern Betreiber einer florierenden Schönheitsklinik, in der auch sein Mündel, die platinblonde Rosina, arbeitet. Graf Almaviva ist dementsprechend ein Exponent einer Jeunesse dorée, der es weniger um tiefe Gefühle als um leichte Eroberungen geht und die mit Geld alles kaufen kann. Und Rosina wäre wohl ein von der Regenbogenpresse hochgejubeltes It-Girl, wenn sie nicht in der Klinik ihres Vormundes verkümmern müsste. Figaro, der Paradiesvogel und Strippenzieher, verliert nach seinem fulminanten Auftritt als Chef eines Coiffeursalons bald die Übersicht, und das Spiel nimmt zunehmend eine Eigendynamik an. So sind es Almaviva und Bartolo selbst, die in teilweise ergötzlichen Szenen listig um Rosina buhlen. Obwohl Petya Ivanova die Figur parodistisch überzeichnet, wenn sie ihre Koloraturen in schrille Höhen führt, bleibt sie blass und ist in ihrem rosa Röckchen nur dank der Frisur von der Dienerin Berta zu unterscheiden. Bravourös die Gegenspieler Bartolo (David Maze) und Almaviva (Anicio Zorzi Giustiniani), denen Nikolay Borchevs wendiger Figaro stimmlich die Waage halten kann, während sich Federico Sacchi als Basilio wenig profiliert.
Passend zum Geschehen auf der Bühne schlägt Stefan Klieme mit dem St. Galler Sinfonieorchester einen leichten Ton an, der im Verlauf des Premierenabends an Kontur gewinnt. Stört der geräuschvolle Auftritt der Strassenmusikanten den Genuss der Ouvertüre, kommen Bühne und Graben im Finale des ersten Aktes zur Übereinstimmung, wenn das Ensemble zu der sich im Kreise drehenden Musik ein mechanisches Ballett veranstaltet und die Herren der Theaterchöre St. Gallen und Winterthur ihre Stimmgewalt unter Beweis stellen. Eindringliche Farben zeigt das Orchester auch in der als Traumsequenz gestalteten Gewitterszene, die zur Klärung der Liebesverhältnisse führt. Doch die Einzige, die an diesem Abend wirklich von Liebe spricht, ist Berta, deren Arie Katja Starke berührenden Ausdruck verleiht.