Bilder-Verbot, Bilder-Rausch

Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (17.05.2011)

Moses und Aron, 15.05.2011, Zürich

«Moses und Aron» von Arnold Schönberg im Opernhaus Zürich

Das Schönste an der flüchtigen Theaterkunst sind die Momente, die bleiben. Don Giovanni kurz vor seinem Untergang in einem hohen Saal an seinem Tischchen, und plötzlich kracht ein vorrevolutionärer Pflasterstein durch die Fensterscheibe – das war Herbert Wernicke in seiner Inszenierung der Oper Mozarts 1992 in Basel. «Die Zauberflöte» in einem Traum-Zirkus mit vielen neugierigen, sich unbotmässig einmischenden Tieren – das war Achim Freyer in der Produktion, die er 1997 bei den Salzburger Festspielen in der dortigen Felsenreitschule vorstellte. Und jetzt nochmals Achim Freyer mit einem grandiosen, vor Phantasie nur so sprühenden Bilder-Rausch zu einer Oper, in der es um das Bilder-Verbot geht – diese Bilder aus dem Opernhaus Zürich wird man so schnell nicht vergessen.

Gottvater oder Opern-Neptun?

Seit ihrer in die Geschichte eingegangenen szenischen Uraufführung von 1957 ist «Moses und Aron», die unvollendet gebliebene Oper Arnold Schönbergs, im Opernhaus Zürich nie mehr gezeigt worden. Obwohl sich bei ihm die Premieren im Drei-Wochen-Rhythmus folgen, hat sich auch Alexander Pereira schwergetan mit diesem Werk. Jetzt, in seiner zweitletzten Saison, hat er es aber doch gewagt – und dabei auf der ganzen Linie gewonnen. Zunächst, weil ein so berufener Mann wie Christoph von Dohnányi am Pult steht. Der 81-jährige Dirigent schöpft aus langer Erfahrung mit diesem schwierigen, gerne spröd wirkenden Stück Zwölftonmusik und interpretiert es aus hörbarer Verbundenheit heraus. Schon allein musikalisch wird der Abend deshalb zum Ereignis.

Dohnányi bringt das Orchester der Oper Zürich, das sein Bestes gibt, zu einer hochmusikalischen Auslegung der Partitur. Bei allem bisweilen vielleicht etwas verkrampften Wollen Schönbergs tritt die sinnliche Seite dieser Musik voll heraus – mit all ihren wirkungsvollen Gesten und ihren kräftigen Farben. Da und dort glaubt man fast, was angesichts der engen Verbindungen im Kreis der Zweiten Wiener Schule nicht a priori von der Hand zu weisen ist, Anklänge an Alban Bergs «Lulu» zu vernehmen. Und der Sprechgesang, der besonders in seiner chorischen Ausführung an die nun achtzig Jahre zurückliegende Entstehungszeit erinnert, wirkt hier als ein Gestaltungsmittel unter vielen. In hohem Mass ist das dem Slowakischen Philharmonischen Chor Bratislava zu verdanken, der die ausgedehnten, heiklen Aufgaben in dieser Oper anstelle des Zürcher Opernchors übernommen hat.

In seiner prallen Vitalität zielt das Musikalische in genau die gleiche Richtung wie die szenische Zubereitung. Der gedankenstarke, wortmächtige Text Schönbergs geht ja auf das Spannungsfeld ein, das sich zwischen der reinen, nur als Vorstellung oder Konzept bestehenden Idee und ihrer Konkretisierung in Sprache, Bild oder Klang auftut. Der Gott Moses' verlangt von seinem Volk, dass es sich kein Bild von ihm mache, dass es vielmehr in einer abstrakten, und das heisst auch: unbedingten Art und Weise an ihn glaube. Und Moses selbst charakterisiert sich als einer, der denken, aber nicht reden kann – weshalb ihm mit Aron ein dienender Mund zur Seite gestellt ist. Allein, im Moment von Not und Verzweiflung wird Aron schwach und gibt dem Volk die Bilder, nach denen es verlangt.

Verhandelt wird dabei ein Problem, das mit der Rekonversion Schönbergs zum jüdischen Glauben zu tun hat (vgl. NZZ vom 14. 5. 11). In gleichem Mass ist «Moses und Aron» aber auch eine Künstleroper, geht es hier, wie etwa in vielen Opern Franz Schrekers, um die Frage, wie die Kunst die Kluft zwischen der inneren Vorstellung und ihrer sinnlich wahrnehmbaren Verwirklichung überwinden kann. Während Schönberg seinen Moses mit dem verzweifelten Ausruf «O Wort, du Wort, das mir fehlt» scheitern lässt, scheint der grosse Theaterkünstler Achim Freyer in Übereinstimmung mit dem Dirigenten auf Aron und seine Mittel der Versinnbildlichung zu setzen. Wie er «Moses und Aron» auf die Bühne bringt, ist ein Theatertraum, der einen von A bis Z gefangen nimmt und aus dem Staunen nicht herauslässt.

Ein schwarzes Loch gähnt einem entgegen, und der hell strahlende Rahmen um das Portal unterstützt diese Anlage noch. So gut wie unsichtbar, klingt der Chor aus einem Schlitz zwischen dem Bühnenboden und einem zweiten, steil nach hinten hin ansteigenden Boden, und sobald das Licht ein wenig angeht, erblickt man die gewaltige Spiegelwand, welche die Bühne umgibt und das Geschehen in komplexer Brechung in den Raum wirft. Bald weiss man kaum mehr, wo oben und unten ist – und wer da genau singt. Denn die beiden Hauptfiguren sind mehrfach verkörpert: Moses, ein bisschen lieber Gott mit Rauschebart, ein bisschen Neptun, sieht sich von einem spiegelverkehrt agierenden Doppelgänger begleitet, Aron, der Clown mit steiler Rockermähne, sogar mit deren zwei. Mit gewaltiger Donnerstimme gibt Peter Weber von der Wiener Staatsoper den nur sprechenden Moses, während der Tenor Daniel Brenna als singender Aron seine weit aufgespannte Partie in Ehren bewältigt, aber doch zu wenig Belcanto-Glanz einbringt. Da hat Chris Merritt, lange Zeit der Aron vom Dienst, ganz andere Horizonte der Kontrastbildung aufgemacht.

Durchwegs erstklassig agiert das grosse Ensemble, das Schönberg verlangt, und das will etwas heissen. Denn bei Freyer, der hier wie immer alles in der Hand hat: Inszenierung, Bühnenbild, Kostüme und Licht – bei Freyer steht Besonderes an. Das schwarze Loch der Bühne zeigt die Wüste. Sie ist von Steinen übersät: von lebendigen Steinen allerdings, denn in ihrem Inneren wirken Choristen – deshalb der überwältigende Raumklang. Aber auch jenseits der Steine lebt Freyers Wüste, es wuselt da richtiggehend, und das meiste ist grossformatig, wulstig und allerliebst. Was Aron inmitten einer Fülle an bildlichen Metaphern mit Dackel und Güggel, Küngel und Frosch herbeizaubert, ist glitzerndes Disneyland vom Feinsten.

O Bild, du trügerisches

Den von Schönberg als Operntableau erdachten Tanz ums Goldene Kalb nimmt Freyer in der Tradition Brechts dann aber nach Strich und Faden auseinander; das Kalb ist ein goldener Osterhase zürcherischer Provenienz, die durchwegs beleibten nackten Jungfrauen werden von Ku-Klux-Klan-Priestern aufgeschlitzt und bekommen es danach mit hochroten männlichen Gliedmassen zu tun – und zu alldem zieht noch ein kleiner Hund mit Generalsmütze akkurat von links nach rechts, wie weiland der lachende Schlafwagenschaffner bei Christoph Marthaler. Moses mag das Wort fehlen, aber die irrlichternden, trügerischen Bilder Arons, so deutet die Inszenierung an, sie bieten auch keine Lösung. Da schlägt sich der Regisseur am Ende doch auf die Seite des Komponisten – der freilich den dritten Akt nicht zu Ende führen konnte.