Marianne Mühlemann, Der Bund (17.05.2011)
Elektrisierende Chöre, erlesene Solisten, orchestrales Feuerwerk: So präsentiert sich Händels selten gespielte Oper «Semele» am Stadttheater Bern. Bloss auf die Inszenierung könnte man stellenweise verzichten.
Beim Jupiter! Wie das rauscht, wie das stürmt. Bereits die ersten Takte, die das Berner Symphonieorchester unter der Leitung des Griechen George Petrou schwungvoll aussetzt, bringen das Stadttheater Bern ins Vibrieren. Kräftig und präzis klingt das Spiel, agil und affektgeladen bis in die Fasern der Continuo-Gruppe mit Cembalo (Markellos Chryssicopoulos), Theorbe (Julian Behr) und Cello (Peter Hauser). Dieser Dirigent, der hier sein Debüt gibt, erweist sich als Glücksfall für einen Abend, der inszenierungstechnisch eher zwiespältige Gefühle hinterlässt.
Und dann geht der Vorhang auf. Die Bühne präsentiert sich als flimmernder Dschungel, aus dem Tausende Augen ins Publikum starren. Es sind die Augen auf dem Federkleid eines kobaltblauen Pfaus, der hier seinen Fächer aufgeschlagen hat. Bühnenfüllend. Erst im Kontext ist er zu verstehen. Die griechische Mythologie erzählt, dass Juno, die Göttermutter, dieses prächtige Tier einst geschaffen hat. In vielen Kulturen gilt der heilige Vogel als Symbol für Schönheit, Reichtum, Liebe, Leidenschaft – und Unsterblichkeit. Doch auch Arroganz und Eitelkeit werden ihm angedichtet. Und genau das sind die Themen, aus denen der Stoff von «Semele» gewoben ist.
Ein Pfauenrad? Man hätte einen Tempel erwartet. So will es das Libretto von William Congreve, das dieser 1707 nach Ovids «Metamorphosen» verfasst hat. Vor dem Pfauenrad soll die Hochzeit zwischen Semele (Hélène Le Corre) und dem Prinzen Athamas vollzogen werden, dem Peter Kennel seinen stilsicheren Altus leiht. Es wird anders kommen. Semele mag ihn nicht, den Bräutigam, den ihr Vater Cadmus (Carlos Esquivel) für sie bestimmt hat. Sie hat einen andern im Kopf: Jupiter, den Göttervater höchstpersönlich, der sie als Geliebte auserkoren hat.
Und zack! Ein paar Blitze
So fleht sie diesen göttlichen Abwesenden um Hilfe an, hier vor dem Altar, wo zwischen den Hochzeitsgästen im College-Look (Faltenjupes, Kniesocken, Krawatten, Karopullunder) auch ihre Schwester steht, Ino (Lisa Wedekind), die es auf Athamas abgesehen hat. Und da steht auch die Hochzeitstorte. Ein Riesending. Wieso sie allerdings brennende Geburtstagskerzen trägt? Es ist nicht die einzige szenische Ungereimtheit in der von Klischees und Effekten strotzenden Inszenierung. Auch im zweiten Teil trägt Regisseur Jakob Peters-Messer dick auf. Die Musik hätte das nicht nötig.
Semele vor dem Altar zu befreien, ist für den jugendlichen Jupiter mit der hellen, zuweilen etwas zu leisen Stimme (Andries Cloete) ein Kinderspiel. Der Verführer fährt, zack!, ein paar göttliche Blitze aus. Dass sie eher einer Discobeleuchtung gleichen denn einem Naturschauspiel, dafür kann er nichts. Er lässt einen Regen über die Gästeschar schauern, noch etwas Donner obendrein. Und als ob dieser Aktionismus nicht genug wäre, explodiert mit viel Rauch die Torte. Noch mehr wird platzen in diesem fast dreistündigen Spiel. Die Musik treibt herrlich voran. Petrou, der sich bestens mit der historisch informierten Aufführungspraxis auskennt, ist der Mann der Stunde. Er führt das Symphonieorchester zu gestalterischen Höhenflügen, ohne je die Zügel zu verlieren. Da ist Feuer in den Arien, lyrische Sensibilität in den Accompagnato-Rezitativen, Präzision, auch in den zahlreichen Ritardandi. Und auch die gerettete Semele strahlt, oben auf der Mittelgalerie in einem glitzernden Konfettiregen. Hélène Le Corres Gesang ist überwältigend. Wie einen frischen Bergbach lässt sich ihre Koloraturen über die Brüstung ins Parkett stürzen. Von da muss er nicht mehr weit sein, der Weg in den Himmel.
Ein gerüschter Lamellenpilz
Während das Orchester die rhetorisch-herben Schlussakkorde zum zweiten Akt effektvoll abreisst, als wärs ein ironischer Kommentar auf die Wirren, die gleich folgen, verstricken sich Juno, die eifersüchtige Göttergattin (Lisa Wedekind überzeugend in ihrer Doppelrolle) und ihre Angestellte, die Götterbotin Iris (Anne-Florence Marbot), in einen Dialog unter Frauen. Man staunt nicht nur ob ihrer flexiblen Stimmen und ihrer Komödiantinnenkunst, sondern auch über ihre auftoupierten Frisuren und Kostüme. Sven Bindseil hat modisch gross und eigenwillig angerichtet. Wie sich Marbot in ihrem gerüschten Albtraum überhaupt bewegen kann, ist beeindruckend – der Saum hängt einseitig über der Schulter und gibt den Blick frei in einen regenbogenfarbigen Unterbau, der einem Lamellenpilz gleicht. Auch wie leicht sie ihre mörderischen Koloraturen auf der Zunge zergehen lässt, während sie ihrer Chefin den Tee serviert (klar, wir sind in England), oder die virtuosen Verzierungen in die Länge zieht und Schlusskonsonanten wie Stecknadeln ausspuckt – unwiderstehlich.
Nur die Götter machen nicht mit
Ob sich Semele den Himmel so vorgestellt hat? Er zeigt sich als enge, abschüssige Guckkastenbühne, erinnert an einen Plattenbau mit bemalten Wänden. Plakativ in Rosa und Gelb mit gezackten Geometrien. Jupiterblitze. Die poppige Ästhetik wirkt ziemlich verstaubt. Aber Semele soll sich hier nicht langweilen müssen. Jupiter schnippt mit dem Finger, auf dass ein wenig die Hölle los ist im Himmel. Sie wirkt ziemlich irdisch: Paparazzi mit Kameras und Mikrofonen (der Chor des Stadttheaters meistert auch diese Aufgabe mit Bravour) animieren Semele zum Posieren und zu Interviews. Der märchenhafte Aufstieg der Geliebten eines Gottes – ein Fressen für den Boulevard im Himmel und auf Erden. Semele macht mit, sitzt in ihrem weissen Prinzessinnenkleid wie auf einer Schlagrahmwolke, probiert Schuhe, Parfum, Cocktails. Und will mehr. Wie wärs mit Unsterblichkeit? Semeles Spiegel-Arie bringt das Kippmoment. Wie Hélène Le Corre ihre Koloraturen atmet, ausdrucksstark phrasiert, lebendig, physisch – das ist bezirzend, grandios. Doch die Götter machen nicht mit. Juno sinnt auf Rache. Semele wird sterben.
Georg Friedrich Händel hat «Semele» in nur vier Wochen in London komponiert. 1744 wurde das knapp dreistündige, englisch gesungene Werk uraufgeführt. Und wurde ein Flop. Das Publikum goutierte das opernhafte Oratorium nicht: Oratorien, nichtszenische Vertonungen einer zumeist geistlichen Handlung, gehören in den Konzertsaal. Die dramatische Anlage von «Semele», wo sich die Götterwelt mit der irdischen Welt einlässt, bietet indessen genug Dramatik, dass man die szenische Darstellung auf der Opernbühne wagen kann.
Die Frage bleibt wie. Doch die einfallsreiche Musik, die dichten, betörenden Chöre (Einstudierung: Tarmo Vaask), der Einsatz der Solisten – sie alle sind es wert, sich diese selten gespielte Oper anzusehen. Umso mehr, als sie nicht als Trauerspiel endet. Und es steht einem ja frei, mal ein Auge zu schliessen.