Oliver Meier, Berner Zeitung (17.05.2011)
Aufstieg und Fall einer Nimmersatten: Das Stadttheater bringt «Semele» von Georg Friedrich Händel auf die Bühne. Eine szenisch und gesanglich solide Produktion, die dank der bravourösen Orchesterleistung zum Ereignis wird.
Da purzeln die Töne. Rasend, in abenteuerlichen Läufen gibt Semele Zeus den Tarif durch, singt ihn kurzerhand an die Wand. Es reicht der ambitiösen Prinzessin nicht, dass der Göttervater sie per Adler in sein Reich entführt und zur Gespielin gekürt hat, dass er sie ins Blitzlichtgewitter der Paparazzi setzte und mit edlen Schuhen beschenkte. Nein – Semele will mehr. Und das kann nur heissen: alles. Unsterblich will sie sein und Zeus in seiner wahren, göttlichen Gestalt erblicken. Es ist der Anfang vom Ende dieser Aufsteigerin, die ihre Masslosigkeit mit dem Tod bezahlt. Hélène Le Corre, bis 2010 Mitglied im Opernensemble, wird für ihre «Wahnsinns»-Arie zu Recht mit kräftigem Szenenapplaus bedacht – nicht zum ersten Mal an diesem packenden Premierenabend.
Oper oder Oratorium
Mit «Semele» von Georg Friedrich Händel (1743) bringt das Stadttheater erstmals seit langem ein Barockwerk auf die Bühne. Ob es nun eine Oper ist, die kopfsteht, oder ein Oratorium, das so tut, als wäre es eine Oper – darüber lässt sich streiten. Händel selbst sprach von einer «Oper nach der Art eines Oratoriums». So oder so: Es ist ein Drama, das sich in und aus der Musik heraus entfaltet und nicht zwingend eine szenische Umsetzung braucht. Trotzdem kam es in den letzten Jahren wiederholt auf die Bühne: 2003 in Basel, 2007 in Zürich – eine hochgelobte Produktion, die der Musik allen Raum gab. Auch die Berner Inszenierung von Jakob Peters-Messer kann sich sehen lassen. Ziemlich unverkrampft wird die mythologische Geschichte, in der sich Götter und Sterbliche intrigenreich verstricken, in die Moderne verpflanzt, zugleich mit märchenhaften Elementen und raunender Symbolik versehen. Ein riesiger Pfau, Sinnbild für Schönheit und Unsterblichkeit, prägt die Kulisse im ersten Akt und überwältigt die Sinne (Bühne: Markus Meyer). Als glatte Designwelt erscheint dagegen der Palast, in den die mädchenhafte Semele entführt wird – von einem Zeus (Andries Cloete), der nicht als lüsterner Verführer erscheint, vielmehr als kühler Blender, eine Mischung aus Popstar und Guru.
Ironie und Leerlauf
Es ist eine bunte, ziemlich amüsante Inszenierung, die nicht bloss bebildert, sondern interpretiert, die mit Formen und Motiven spielt und das Geschehen immer wieder ironisch bricht. Es ist aber auch eine Inszenierung, die das Musikalische manchmal unnötig verdoppelt und – vor allem bei den ausladenden Da-capo-Arien – nicht ohne Leerläufe bleibt.
Zum Ereignis wird die Produktion dank dem Berner Symphonieorchester, das von Barockspezialist George Petrou zu einer Glanzleistung getrieben wird. Natürlich: Man könnte sich diesen Händel noch luftiger und zugleich schärfer konturiert vorstellen. Aber was das klein besetzte Orchester aus der Partitur herausholt, ist allemal erstaunlich – mit sprechender Artikulation und fast ohne Vibrato, ganz im Sinn barocker Klangrhetorik. Die Tempi sind gelegentlich rasant, aber nie überhastet, das Continuo (mit Theorbe, Cello und Cembalos) farbenreich und fantasievoll. Weitgehend souverän agieren auch der Chor und die Solisten. Lisa Wedekind gibt die eifersüchtige Götterkönigin Juno und Semeles Schwester Ino, Andries Cloete den Zeus, Peter Kennel den biederen Gatten Athamas, Carlos Esquivel den Patriarchen Cadmus und den Schlafgott Somnus, während Anne-Florence Marbot als Götterbotin Iris ihr Flair fürs Komödiantische zeigt. Und Hélène Le Corre? Mit ihrem leichten Sopran meistert sie selbst die wildesten Koloraturen, kann aber auch darstellerisch punkten. Berückend stirbt ihre Semele zuletzt dahin und macht den Weg frei für ein weinseliges Happy End, in dem die Rückkehr zur «natürlichen Ordnung» gefeiert wird.