Urs Mattenberger, Neue Luzerner Zeitung (17.05.2011)
Die Zürcher Inszenierung von Arnold Schönbergs «Moses und Aron» räumt mit Vorurteilen auf. Und erweist sich gleich doppelt als Wurf.
Eine Aufführung von Arnold Schönbergs Oper «Moses und Aron» muss gegen mindestens zwei Vorurteile ankämpfen. Da ist zunächst das Klischee vom 12-Ton-Komponisten, der seine Musik am Reissbrett konstruierte. Zum andern verhandelt das 1957 in Zürich szenisch uraufgeführte Werk die ab-strakte Frage, wie man überhaupt von Gott reden kann, wenn man sich von ihm kein Bild machen soll. Und das alles in Form einer Oper, die wie keine andere Gattung von unmittelbarer Sinnlichkeit lebt?
Die Neuinszenierung des Werks am Opernhaus – die erste in Zürich seit der Uraufführung – begegnet den Vorurteilen unterschiedlich. Das erste fegte die Premiere am Sonntag einfach hinweg: Unter der Leitung von Christoph von Dohnányi gewinnt Schönbergs Musik eine Expressivität, die jeden Gedanken an 12-Ton-Reihen ausschliesst. Und verdeutlicht damit, wie Schönberg in diesem und anderen Spätwerken Tradition und Avantgarde versöhnte.
Fiebrige Dramatik
Die intensiven Farben des Orchesters steigern sich zu romantischer Gefühlsemphase. Der Chor, als wankelmütiges und verführbares Volk ein zentraler Handlungsträger (fantastisch: der Philharmonische Chor Bratislava), lässt fiebrig-expressionistische Dramatik aufflackern. Die solistischen Partien verleihen mit ihrer Nähe zum Sprachgesang selbst den intellektuellen Diskursen eine theaternahe Intensität. Ganz im Zentrum stehen, vokal so imposant wie wendig, Peter Weber als archaischer Moses-Prophet und Daniel Brenna als dubioser Intellektueller in der Rolle des Aron.
Wo Dohnányi die Bühnentauglichkeit des Werks mit opernhaftem Gestus beweist, liefert sich Regisseur und Bühnenbildner Freyer dessen intellektueller Paradoxie radikal aus: Indem er eine Bildwelt schafft, die vielgestaltig die Unmöglichkeit vorführt, über Gott in Bildern zu reden. Schönberg thematisierte das, indem er dem Denker Moses Aron als Alter Ego und Sprachrohr zur Seite stellte: Hier ist er eine Art Demagoge, der Moses’ Gottesvision konkretisiert, bis es im zweiten Akt zum Tanz um das Goldene Kalb (ein rotierender, goldener Schoko-Osterhase) kommt.
Bühnenwunder
Der handfesten Theatralität, die man von solchen Szenen erwarten könnte, verweigert sich schon Schönbergs Musik. Das gilt auch für Freyers Inszenierung. Konkrete Spielsituationen schliesst das phänomenale Bühnenbild aus: eine Steinwüste, die sich durch raffinierte Spiegelwände zur Seite und Höhe hin ins Unendliche vervielfältigt. Dadurch entziehen sich auch die Figuren, die im Fall von Moses und Aron zudem real verdoppelt und verdreifacht sind: Das Bild, das wir uns machen wollen, aber nicht machen sollen oder können, löst sich in ein Kaleidoskop von Bildern auf. Den Zug ins Surreale verstärken die Kostüme, die das Volk zu zu Fabelwesen mit doppeltem Schädelkopf, wulstigen Nacktpolstern oder Engelsflügeln machen.
Eindeutig aber ist das Licht, das bei Freyer eine Hauptrolle spielt. Wenn er zur bunt stilisierten Orgie die Bühne mit blutroter oder später mit mystisch blauer Farbe tränkt, gelingt mit der Verwendung der Farbe als gewissermassen bildlosem Bild die Quadratur des Kreises – bis hin zur Verdunkelung der Bühne zu einem riesigen schwarzen Loch, in das wir als Zuschauer unsere eigenen Bilder hineinprojizieren. Musikalisch wie szenisch ist dieser «Moses und Aron» ein Wurf, den das Premierenpublikum mit unermüdlich skandiertem Applaus feierte.