Sigfried Schibli, Basler Zeitung (17.05.2011)
Achim Freyer rührt am Opernhaus Zürich Schönbergs «Moses und Aron» mit der grossen Kelle an
Keine Oper hat ein abstrakteres Sujet als Arnold Schönbergs «Moses und Aron», die 1957 am Opernhaus Zürich szenisch uraufgeführt wurde. Jetzt macht Achim Freyer aus dem Stück über das jüdische Bilderverbot einen opulenten Bilderreigen.
Solche Paarungen gibt es an der Spitze von politischen Parteien, von Religionsgemeinschaften und wohl auch von grossen Unternehmen: Die eine Kraft folgt abstrakten Prinzipien und stellt die Reinheit der Lehre über alles, während die andere auf Vermittlung, auf Kommunikation, auf Kompromiss setzt.
Im Alten Testament und in Arnold Schönbergs Fragment gebliebener Oper heissen die beiden sich bald ergänzenden, bald konkurrenzierenden Kräfte Moses und Aron. Aron soll dem Volk die Lehre verkünden (oder sie «verkaufen»), die der Stotterer Moses zwar ausgedacht und kraft göttlicher Inspiration verinnerlicht hat, aber nicht öffentlich darstellen kann.
Reibung. Schönberg, der sich in den Dreissigerjahren zum Judentum bekannte, setzte den Dualismus der beiden Religionsführer so um, dass er Moses nur sprechen oder allenfalls «sprechsingen» lässt, während Aron die schönsten Melodien singt – sofern die von Schönberg konsequent angewandte Zwölftontechnik das zulässt.
Anhaltspunkte dafür, dass der radikale und gesellschaftlich isolierte Neutöner Schönberg mit der Moses-Gestalt seine eigene Rolle als ungehörter Prophet thematisiert hat, gibt es mehr als genug. Doch das ist es nicht, was den Berliner Regisseur Achim Freyer (77) an dem selten gespielten Stück interessiert. Er will die Geschichte wie einen klingenden Comic-Strip erzählen und macht aus dem oratorisch angelegten Stück – Schönberg hatte zuerst tatsächlich die Oratorienform im Sinne – eine bilderreiche, das Auge beschäftigende und sich mit dem Bilderverbot reibende Oper.
Äusseres Zeichen dafür ist die Verbannung der Chöre, die dem Stück, ständen sie auf der Bühne, zwangsläufig einen oratorischen Zug verliehen. In Freyers Ausstattung und Inszenierung, die auch dank der höchst kompetenten Leitung von Christoph von Dohnányi am Pult reüssiert, sind die Chöre unter der Bühne platziert – was einen die grossartige Leistung des Slowakischen Philharmonischen Chors umso höher schätzen lässt. Fragen darf man indes, warum der Opernchor für diese Aufgabe nicht zur Verfügung stand.
Nicht weniger verdient macht sich das Opernhaus-Orchester, das mit prägnanten Blechbläsersoli und diszipliniertem Tuttispiel aufwartet. Schönbergs Musik mag im Nachvollzug komplex sein, aber dass sie ohne Ausdruck wäre, wird bei so engagiertem Spiel niemand behaupten.
Zeichnung. Moses gleicht mit seiner bizarren Zottelfrisur der bekannten Skulptur von Michelangelo, während der smarte Aron mit weisser Andy-Warhol-Künstlerbrille dem modernen Bildergedächtnis entnommen zu sein scheint. Beide Figuren werden verdoppelt und verdreifacht, und da die Bühne mit Spiegelwänden versehen ist, ergeben sich suggestive magisch-mehrdimensionale Effekte.
Auch in der Zeichnung der Nebenfiguren zitiert Freyer mythische Gestalten und Märchenbilder. Der Priester (Valeryi Murga) hat einen doppelten Totenkopf und bewegt sich rituell vor- und rückwärts, die messerwirbelnden Schlächter tragen rote Spitzhüte, auf der Bühne tummeln sich aufgedunsene Botero-Frauen und Engel mit gefährlich gezackten Flügeln. Nicht zu vergessen die Tierfiguren aus dem Bilderbuch, am markantesten der goldene Lindt-Osterhase, der – träfe Idee in der Banken- und Schokoladen-Metropole Zürich – das «goldene Kalb» verkörpert. Schönberg hat dazu und zu der in Zürich an Hieronymus Bosch gemahnenden erotischen Orgie im zweiten Akt eine Musik geschrieben, die bewusst vulgär gehalten ist, was in Verbindung mit der alles andere als ordinären Zwölftontechnik eine amüsante Wirkung hat.
Lösung. Die Besetzung der beiden Hauptpartien des gut neunzigminütigen Zweiakters (den dritten Akt hat Schönberg nicht mehr komponiert) stellt jedes Theater vor eine heikle Aufgabe. Das Opernhaus hat sie brillant gelöst: Peter Weber spricht den alten Moses, der an seiner Aufgabe zerbricht und die Gesetzestafeln zertrümmert, bevor er seinen Irrtum eingesteht, mit aller erdenklichen stimmlichen Autorität. Und der junge Amerikaner Daniel Brenna leiht der Kontrastfigur des Aron seine zu allem tenoralen Belcantoschmelz fähige, sehr genau geführte Stimme.
Dass Schönbergs Bibel-Oper ein starkes Stück ist, hat man schon lange gewusst. Dass man ihr auch mit einer Prise Humor beikommt, hat erst Achim Freyer gezeigt. Heftiger Premierenapplaus für die Darsteller, den Dirigenten und den Regisseur. Man sollte hingehen, um etwas über Judentum, moderne Musik und Inszenierungskunst zu erfahren.