Tanz um den goldenen Osterhasen

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (17.05.2011)

Moses und Aron, 15.05.2011, Zürich

54 Jahre nach der Zürcher Uraufführung ist «Moses und Aron», das Opernfragment von Arnold Schönberg, erstmals wieder im Opernhaus zu erleben. Ein Ereignis.

Noch stehen die Lindt-Schokoladehäschen in den Ladenregalen, nach Ostern sind sie zu Ramschpreisen zu haben. Und da steht auch eins auf der Bühne des Opernhauses, es dreht sich, das Glöckchen am roten Band funkelt, und das Premierenpublikum lacht. Der zweite (und letzte vollendete) Akt von Schönbergs «Moses und Aron» steuert auf seinen Höhepunkt zu, der Tanz ums Goldene Kalb steht an, und natürlich ist das goldene Häschen ein Gag.

Ein blitzgescheiter Gag allerdings, und ein typischer für den Regie-Altmeister Achim Freyer, der erstmals in Zürich inszeniert. Alles zeigt er mit diesem Häschen, das Kultobjekt und die Profanisierung der religiösen Rituale, die Übernahme heidnischer Symbole ins Christentum und die Tendenz, mit Kalorien auszugleichen, was an Inhalten verloren ist. Und das wirkt umso stärker, als Freyer schon zuvor, als Moses’ Bilderverbot noch respektiert wurde in diesem Stück, alles richtig gemacht hat.

Trillerpfeifen zur Uraufführung

Einfach ist das nicht. Einfach ist überhaupt nichts an diesem Werk, angefangen bei der Entstehungsgeschichte. 1930 bis 1932 komponierte Schönberg die beiden Akte, zu einer Zeit also, als die Frage der Führerschaft nicht nur in religiösen Dingen aktuell war. Zur Vollendung des Fragments kam es danach trotz wiederholter Ankündigungen nie, und auch die Aufführungsgeschichte verlief fragmentarisch: 1951 gab es eine konzertante Präsentation des «Tanzes um das Goldene Kalb» unter Hermann Scherchen in Darmstadt. Bei der szenischen Uraufführung, die am 6. März 1957 in Zürich stattfand, war der Komponist bereits tot.

Stapi Emil Landolt persönlich hatte sich damals für diese Uraufführung starkgemacht, 125 Musikkritiker reisten an und auch ein paar Schönberg-Feinde mit der Trillerpfeife. Das Resultat waren 65 000 Franken Defizit, divergierende Kritiken, böse Leserbriefe gegen den Dirigenten Hans Rosbaud, der gleich nach dieser Uraufführung in die problemlosere Tonhalle wechselte. Und die Ehre, eine zentrale Oper des 20. Jahrhunderts aus der Taufe gehoben zu haben.

«Moses und Aron» wird seither überall gespielt, nicht oft, aber immer mit besonderem Ehrgeiz, und man konnte sich durchaus darüber ärgern, dass Zürich nicht einmal zum 50-Jahr-Jubiläum der Uraufführung eine Neuinszenierung zustande gebracht hat. Aber nun erledigt sich jeder Ärger, es bleibt die Begeisterung über eine Produktion, die fast so aussergewöhnlich ist wie das Werk.

Wer sind sie? Wo sind sie?

«Moses und Aron» ist wohl die einzige Oper überhaupt, in der es nicht um die Liebe geht, und auch sonst um nichts, was die üblichen musikdramatischen Mechanismen in Bewegung setzen könnte. Da ist Moses, der das Volk vom unsichtbaren, unfassbaren Gott überzeugen will, aber nicht die Worte findet dafür; und da ist sein Bruder Aron, der zwar keinen direkten Draht hat zu diesem Gott, aber reden kann. Bei Schönberg wird Moses’ Sprachlosigkeit zur Musiklosigkeit: Die Figur singt nicht, wie es sich in einer Oper gehören würde, sie deklamiert. Aron dagegen ist ein Tenor, ein Heldentenor manchmal, oder auch ein Belcantotenor – die zwölftönige Anlage des Werks schliesst entsprechende Tonfälle keineswegs aus.

Fassbar sind sie beide nicht, das stellt auch das Bühnenvolk fest: «Steht Aron jetzt bei Moses? Nein, er eilt voran! Geht Aron an Moses’ Seite? Vor oder hinter ihm?» Achim Freyer hat diese Fragen zum Grundprinzip seiner Inszenierung gemacht. Wer sind Moses und Aron? Wo sind sie? Man weiss es nie so recht. Denn Moses steht zweifach auf der Bühne, mit versteinertem Gesicht und Haaren, als hätte Michelangelos Statue an eine Hochspannungsleitung gefasst. Und Aron gibts gleich dreimal, mit Bürstenfrisur und weiss gerahmter Sonnenbrille, grösser als Moses, kleiner als Moses. Ein Dandy ist er, ein Variétékünstler, der mit Taschenspielertricks einen Stab in eine Schlange verwandeln kann (und ist es Zufall oder Absicht, dass er ein bisschen dem Theater- und Vermittlungszauberer Achim Freyer gleicht?).

Die Brüder begegnen sich auf der Vorderbühne oder im verspiegelten Raum dahinter. Schwarz und leer ist dieser Raum, eine Wüste mit ein paar Steinbrocken; dann wieder tauchen Traumfiguren darin auf, Albtraumfiguren in Kostümen, die aus dem Fundus zusammengestückelt sind. Ein doppelköpfiger Tod trippelt vor und zurück, überirdisch weiss leuchtet ein Flügel, der auch ein Drachenkamm sein könnte und an einem dritten Bein befestigt ist. Und immer wieder wird es dunkel, dann bleiben nur die Musik und die existenziellen Fragen, die sie transportiert.

Das ist das grösste Verdienst von Freyers Inszenierung: Dass sie der Musik ihren Raum lässt. Illustriert im eigentlichen Sinn wird nur der Tanz um das Goldene Kalb – ohne jenes «landesübliche Ballettgehüpfe», das Schönberg vermieden haben wollte, aber doch so deftig und obszön, dass dieser Tanz tatsächlich als Sünde verständlich wird: gegen das Bilderverbot, gegen die Wahrheit, gegen die Kunst, um die es hier geht. Denn natürlich – und das ist ein weiterer Bezug, den die Zürcher Aufführung sinnfällig werden lässt – verstand sich auch Schönberg als Moses, der eine neue Musik predigt, aber nicht verstanden wird.

Durchgedrehter Strawinsky

Warum diese Musik nicht verstanden wurde und oft immer noch wird: Das kann man nach diesen zwei Stunden gar nicht mehr so richtig nachvollziehen. Denn der Dirigent Christoph von Dohnanyi geht mit dem schwierigen Werk ebenso souverän um wie Freyer. So wie auf der Bühne gesungen und gesprochen wird, so lässt er auch das Orchester der Oper sprechen und singen. Durchsichtig wird gespielt und doch mit gestischer Wucht – nicht nur beim Tanz um das Goldene Kalb, der mit seinen treibenden Rhythmen klingt wie ein durchgedrehtes Strawinsky-Stück.

So fragil die Musik wirkt, so sehr wird hörbar, dass Schönberg seine spätromantische Vergangenheit mit der Entdeckung der Zwölftontechnik keineswegs vergessen hat. Dass er etwas von Theatermusik verstand. Und sehr viel von Stimmen. So werden die Protagonisten getragen von der Begleitung: der verführerisch üppige oder auch fistelnde Tenor von Daniel Brennas Aron, die dunkel (an-)klagende Stimme von Peter Weber, der die Sprechpartie des Moses mit der Kraft des Sängers gestaltet. Und dann ist da als dritter Protagonist der Chor, der genau so aufgesplittert wird wie die Bilder auf der Bühne: Solostimmen lösen sich aus dem Gesamtklang heraus, Gesprochenes und Gesungenes wird übereinandergelagert und durcheinandergefügt. Zu sehen ist der Chor nicht, er singt unter oder hinter oder in der Bühne – mit frappanter räumlicher Wirkung.

Er habe sich, da er nicht mit einer Aufführung rechnen könne, «hinsichtlich der Schwierigkeiten für Chor und Orchester keine Zurückhaltung auferlegt», schrieb Schönberg. Bei der Zürcher Uraufführung 1957 war bis zur Erschöpfung und einer daraus resultierenden Streikdrohung geprobt worden. Dass man dem Opernhaus-Chor die für dieses Werk notwendige Zeit diesmal nicht zugestehen mochte oder konnte und stattdessen den (hervorragenden) Slowakischen Philharmonischen Chor Bratislava importierte, ist der einzige Makel bei diesem Opernwunder.

Warum diese Musik oft nicht verstanden wird, kann man nach dieser Aufführung gar nicht mehr nachvollziehen.