Moses hütet schwarze Schafe

Robert Jungwirth, klassikinfo.de (17.05.2011)

Moses und Aron, 15.05.2011, Zürich

1957 erlebte Arnold Schönbergs Oper "Moses und Aron" an der Oper Zürich ihre Uraufführung. Neben Bergs "Lulu" und Hindemiths "Mathis der Maler" die wichtigste Opernuraufführung des 20. Jahrhunderts an der Zürcher Oper. Jetzt, 54 Jahre später, ist das Werk erneut zu sehen - in einer Neuproduktion der beiden Altmeister Christoph von Dohnanyi und Achim Freyer.



Es ist eine Crux für jeden Bühnenbildner, der sich an Schönbergs "Moses und Aron" macht, dass er eine Oper bebildern muss, in der es um das biblische Bilderverbot geht. "Was ich auch mache, eine Bühne ist immer eine Bild", räsoniert der Bühnenbildner und Regisseur Achim Freyer im Programmheft. "Öffne ich die Bühne und lasse den schwarzen Aushang stehen, ist es immer noch ein Bild. Mache ich gar nichts, mache ich nur die Bühne nur auf, ist es für den Zuschauer dennoch etwas ganz anderes als die Realität des Alltags." Wie also erzeugt man Bilderlosigkeit im Theater? Wahrlich keine leichte Aufgabe.



Die wenigsten Bilder gibt es auf der Erde u.a. in der Wüste, am besten bei Nacht. Also lässt Freyer die Oper in einer unwirtlichen schwarzen Wüste spielen, mit schwarzen Steinen, in denen Chorsänger versteckt sind. Moses, der Hirte, hütet schwarze Schafe. Auf Realismus kam es dem genialischen Bildererfinder und ehemaligen Brechtschüler Achim Freyer noch nie an, und so interessiert ihn auch in dieser Oper weniger die konkrete biblische Geschichte um Moses, der dem Volk Israel die Gesetzestafeln Gottes bringt, als die ihr innewohnende Metaphorik. Moses verkörpert das Prinzip des Gedankens, des Geistes, Aron das Prinzip des Konkreten, des sinnlich Erfahrbaren. Ungleiche Brüder oder eben Verkörperungen zweier menschlicher Prinzipien. Auch wird gerne in der Forschung auf die autobiografischen Bezüge in dieser Oper und hingewiesen. Schönberg, der Erfinder der Zwölftontechnik, der sich als Verkünder einer neuen Musik immer wieder mit der Aufgabe konfrontiert sah, diese zu erklären.



Mit szenischen Konkretionen hält sich Freyer in seiner Inszenierung also zurück. Moses sieht in seinem unförmigen schwarzen Umhang mit verfilzten grauen Haupt- und Barthaaren, die in allen Richtungen weg stehen, aus wie die Zottelbär-Variante von Michelangelos Moses. Wenn Gottes Stimme zu hören ist, sieht man zusätzlich das Gesicht dieses Moses oben am Bühnenportal. Moses = Gott = schöpferisches Prinzip = Schönberg. So könnte man die Freyersche Inszenierungsformel zusammenfassen. Die vielfachen Bezüge veranschaulicht Freyer mit einer wie in einem Kaleidoskop gespiegelten Bühne, die seitlich von spitz zulaufenden Spiegelflächen begrenzt wird. Doppelt und dreifach erscheinen die Hauptfiguren in diesem Szenario, mal in realiter, mal gespiegelt. Aron trägt eine weißen Anzug.



Wenn nicht gerade die Wüste zu sehen ist, so tummelt sich auf der Bühne allerhand wüstes Getier, ein  riesiger Vogelschnabel guckt aus dem Boden, ein weißer Mäusekopf, Figuren mit Flügeln huschen darüber, ein blonder Engel mit Rückenzacken sieht aus wie ein Dinosaurier beim Kindergeburtstag. Ein groteskes Panoptikum ist da zu sehen, man fühlt sich an Hieronymus Boschs apokalyptische Visionen erinnert. Als Aron dem Volk Israel verführerischen Ersatz für die ausstehenden Gebote ihres (neuen) Gottes liefern zu müssen glaubt, um es ruhig zu stellen, treten allerhand großformatige Tierfiguren wie Kinderspielzeug auf. Beim Tanz um das Goldene Kalb tragen Choristen und Statisten dicke wattierte Kostüme mit blanken Brüsten und Hintern, die überdimensionierte Nacktheit ausstellen. Die Beischlaforgie wird zur Karikatur. Ebenso das Goldene Kalb: ein überdimensionierter goldener (Schokoladen-)Osterhase (eine sehr genaue Nachtbildung jenes Hasen, das die schweizer Firma Lindt zu Ostern traditionell anbietet) mit rotem Halsband und goldenem Glöckchen dran. Man muss das gewiss nicht unbedingt genial finden. Achim Freyer hat zweifellos schon Besseres gezeigt, zumal die immer wieder abgedunkelte Bühne mit ihrer Bilder verweigernden Schwärze bald ermüdet.


Schade, dass Freyer angesichts einer gerade stattgefundenen Weltfinanzkrise und eines vollkommen pervertierten Bankensystems nicht doch noch ein paar andere Gedanken zu dem Thema kamen...



Welche ein Kontrast dazu aus dem Orchestergraben! Der 82jährige Christoph von Dohnanyi, ein ausgewiesener Schönberg-Experte, der "Moses und Aron" schon oft dirigiert hat, verlebendigt die vielgestaltige Komplexität dieser Musik, ihr vom ersten bis zum letzten Ton spannendes und expressives Geflecht aus gesprochenem und gesungenem Text in Chor- und Gesangsstimmen und enorm ausdifferenzierten Orchestersatz mit einer Intensität und Ausdrucksstärke, dass man über die Energie Dohnanyis nur staunen kann. Diese Partitur (es wird die zweiaktige Fassung gespielt) hat nichts von ihrer Modernität und Überzeugungskraft verloren, sie ist - Dohnanyi macht das wieder einmal sehr deutlich - eine der bedeutendsten Opernpartituren des 20. Jahrhunderts. Leider wird sie - aufgrund der enormen Anforderungen, die sie an die Sänger und Musiker stellt - nicht so oft aufgeführt wie sie es verdient hätte. "Da ich in den nächsten Dezennien mit einer Aufführung des Werks nicht rechnen kann, habe ich mir hinsichtlich der Schwierigkeiten für Chor und Orchester keine Zurückhaltung auferlegt", äußerte Schönberg während der Arbeit an dem Werk gegenüber dem späteren Uraufführungsdirigenten Hans Rosbaud.


Fantastische Leistungen boten auch Daniel Brenna als ein mit enormer Durchschlagskraft singender Aron und Peter Weber als nicht minder ausdrucksstarker Moses (Sprechrolle). Geradezu sensationell ist die Präsenz des Slowakischen Philharmonischen Chors Bratislava, der wie aus lauter Solisten zusammengesetzt wirkt.