Biblisches Spiegelkabinett

Hans-Klaus Jungheinrich, Frankfurter Rundschau (17.05.2011)

Moses und Aron, 15.05.2011, Zürich

Üppig sich produzierende Rubens-Nuditäten. Orgie und Gemetzel. Das Goldene Kalb als goldener Hase: „Moses und Aron“ von Arnold Schönberg in Christoph von Dohnányis und Achim Freyers spektakulärer Umsetzung für Zürichs Oper.

An der Zürcher Oper fand 1957 die szenische Uraufführung von Schönbergs „Moses und Aron“ statt. Mehr als ein halbes Jahrhundert verging bis zur dortigen Zweitinszenierung eines Werkes, das namentlich in Deutschland zu einer Art Kultstück wurde und zu einem Prüfstein ambitionierter Musiktheaterarbeit.

In Zürich organisierte der langjährige Intendant Alexander Pereira nun kurz vor seinem Abgang zu den Salzburger Festspielen eine spektakuläre, unter manchen Aspekten grandiose Wiedergabe. Als Universal-Szenograph wurde Achim Freyer gewonnen, als Dirigent der mit dem schwierigen Stück innig vertraute Christoph von Dohnányi, der, anstatt sich in der Bedächtigkeit seines Altersruhms zu sonnen, sich der Knochenarbeit eines Dirigats unterzog, das knapp zwei (pausenlose) Stunden hellwacher Konzentration und unermüdlicher Impulsvermittlung erforderte. Er bestimmte entscheidend das Niveau der Aufführung, nicht nur mit zuverlässiger technischer Präsenz, sondern als Präparator klanglicher Feinheiten, was die Härte und Schlagkraft (erstes Chorfinale, Tanz ums Goldene Kalb) nicht tangierte. Dohnányis Realisierung mit dem veritablen Fundus der Zürcher Vokalsolisten und dem Opernorchester verdient das Prädikat eines profunden „Klangzaubers“.

Achim Freyer in seiner Personalunion als Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner – auch er ein ganz besonderer Zauberer – stand ein für eine uneingeschränkt einheitliche, imponierend subjektive, dabei gänzlich undogmatische und von keinen (para)religiösen Scheuklappen beschränkte interpretatorische Perspektive. Was auf der Bühne zu sehen war, stellte sich in seiner Art als perfektes Arrangement dar. Raffiniert wurde die ohnedies nicht große Opernbühne verkleinert durch einen prismatischen Spiegelhintergrund, wodurch sich alles freilich auch wieder vergrößerte und vervielfachte. Die Bühnenlandschaft mochte, mit verstreut herumliegenden schwarzen Steinen (zugleich Sichtluken für Choristen), an eine Wüste erinnern. Das Prinzip der Doublierung wurde besonders eindrucksvoll wirksam bei den beiden Titelfiguren: Moses hatte einen, Aron sogar zwei (stumme) Doppelgänger. Mitunter vereinigten sie sich auch zur Gruppe bis zur gnadenstuhlähnlich drapierten Fünfeinigkeit.

Eine Quadratur des Kreises

Freyer gelang gewissermaßen eine Quadratur des Kreises. Er nahm die Einzelgestalten Moses und Aron als Gegenspieler und Verkörperungen unversöhnlicher Prinzipien (des ewig mit sich identischen Gesetzes, des wandelbaren Bildes) ernst. Und löste sie dennoch auch auf zu quasi polytheistischen Ausprägungen – die Aporien des jüdischen Bilderverbots unterlaufend und dennoch seinen inspirierenden Impulsen nachgehend.

Die Zürcher Hauptdarsteller hatten auch vokal sozusagen Überlebensgröße: der mit seinem Hörnerkranz bizarr Michelangelo nachempfundene Moses des Sprechers Peter Weber, der seinen letzten Satz „O Wort, du Wort, das mir fehlt“ eher mit verzweifeltem Triumph als resignativ intoniert (der epilogartige dritte Akt, nicht komponiert, entfiel wieder); und der als Clown aufgemachte Volkstribun Aron von Daniel Brenna, mehr Charakter- als Heldentenor und deshalb bei stentorhaft intendierten Spitzentönen zum Falsettieren gezwungen.

Die rigoros stilisierte Freyerbühne erfordert ihren Preis, und der erweist sich bei der Choroper „Moses und Aron“ als hoch und einigermaßen bitter. Seit seinem frühen Berliner „Messias“ zeigt sich der Chor als ein für diesen genialen und idiosynkratischen Szeniker unhandhabbares Element; Es muss optisch unauffällig gemacht, am besten eliminiert werden. Bei der Zürcher Schönbergaufführung waren von den Choristen (dem immensen Philharmonischen Chor Bratislava) nur Köpfe oder Büsten unter dem um ein Geringes hochgefahrenen Bühnenboden zu erblicken, oft wurde aus dem Dunkel geschmettert. Das israelische Volk in all seinen Facetten und Ausbrüchen als dramatis persona: Fehlanzeige.

Nach und nach tummelte sich dagegen eine Menge Statisterie auf der bald mehr an Hieronymus Bosch, bald mehr an Comic-Ästhetik orientierten Bühne. Üppig sich produzierende Rubens-Nuditäten. Orgie und Gemetzel. Das Goldene Kalb als goldener Hase: kleiner Gruß an Beuys und Schlingensief. Als running gag ein von links nach rechts an der Bühne entlanglaufender dressierter Hund (gepudelte Promenadenmischung). Freyer ist souverän, seine Kunstfertigkeit zu zelebrieren, ohne dabei den Bezug zum Stück einzubüßen.

Vor Beginn sagte in der Zuschauerreihe hinter mir ein Herr zum andern: „Jetzt erwarten uns zwei Stunden Pentatonik“. Kleine Fehlleistung; richtig wäre Dodekaphonie; Zwölftonmusik (Pentatonik klingt etwa so wie Muzak im Chinarestaurant). Ich stelle mir vor, wie man in 100 Jahren „Moses und Arton“ rezipieren könnte: als seltenes Exemplar einer heroisch-sperrigen, anhaltend fast inkommensurablen, erratisch-faszinierenden Musikart, die bald nach ihrer Erfindung wieder fallengelassen wurde wie eine heiße Kartoffel. Hitze- und Kältegrade, deren Nichtnachlassen offenbar nicht auszuhalten waren.