Toni Hildebrandt, klassik.com (17.05.2011)
Arnold Schönbergs unvollendete Oper 'Moses und Aron' wurde in der Schweiz zum ersten Mal 1957 gespielt. Nachdem die konzertante Uraufführung bereits im März 1954 in Hamburg stattgefunden hatte, erblickte die szenische Interpretation erst drei Jahre später im damaligen Stadttheater Zürich das Licht der Welt. Das komplexe Werk bereitete sowohl den Musikern wie dem Publikum zunächst äusserste interpretatorische Schwierigkeiten. Auch war die Thematik alles andere als geeignet für die Bühne. Sowohl meilenweit entfernt von Mozart wie von Wagner konnte man dem alttestamentarischen Stoff weder Unterhaltungscharakter noch Mythos abgewinnen. Sperrig wie Schönbergs Musik ohnehin, erschien auch das Libretto den meisten Zeitgenossen als kryptisch oder nichtssagend. Erst spät fand 'Moses und Aron' Eingang in das Repertoire der Opernhäuser und wird selbst heute doch eher selten gespielt. Einen fragwürdigen Status hatte das Fragment schließlich auch innerhalb der Neuen Musik. Die Schülergeneration stand dem Gründungsvater atonaler Musik nicht mehr kritiklos gegenüber.
Eine frühe, kritische Wertschätzung lieferte Theodor W. Adorno – wie so oft mit folgenreichen Konsequenzen. In einem Berliner Vortrag im April 1963 stellte er Krise und Dekadenz des späten Schönberg präzise heraus. Zwar wäre 'Moses und Aron' noch im Bewusstsein über die Unmöglichkeit eines Gesamtkunstwerks entstanden, aber der autoritäre Wille zum Meisterwerk sei dennoch unüberhörbar und omnipräsent: "Das Absolute, auf das diese Musik ohne Erschleichung hinaus will, ist sie als ihr eigener Gedanke, selber das, was die Fabel am letzten möchte, Bild des Bilderlosen."
Was Adorno als bloße "Fabel" geißelte, war für Schönberg jedoch ernste Absicht und künstlerische Grundüberzeugung. Sein Musikverständnis war ein jüdisches, insofern es in der komponierten Form noch stets das Metaphysische und Unsagbare zu transzendieren suchte. In späteren Jahren in den "Modernen Psalmen" und eben auch in 'Moses und Aron' war es gar das ganz konkret Göttliche, der jüdische "Deus absconditus", dem man zwar in den Tönen erahnen sollte, dem aber kein Bild den Götzendienst erweisen durfte. Dies war das Verbot der Thora, dem auch das Libretto in aller Konsequenz folgte. Für Adorno war dies schlicht nur mehr "musica ficta". Der Mystizismus eines Modernisten im Werk, der sich wie Gershom Scholem gegen die Wirklichkeiten in eine Traumwelt des Unzugänglichen flüchtete. Und doch, dies bestätigte selbst Adorno, wurde in 'Moses und Aron' eine lange Tradition der Musikgeschichte zu Ende gedacht, eine Tradition in der Kunst und Religion zumindest der Intention nach konvergieren sollten. Als "sakrales Fragment" ist 'Moses und Aron' die Aufhebung dieser utopischen Bestrebung – die Beendigung in Negation, als Erhalten in der Aufbewahrung des eigenen Erbes und als Erhöhung im Sinne einer messianischen Botschaft.
Es spricht einiges dafür, dass dieser "Messianismus" im Werke Schönbergs nur die leere Geste, nur ein Relikt eines trivialen Glaubens war. Schon seine Zeitgenossen und Freunde teilten seinen Hang zum Spiritualismus nur bedingt. Sein größter Antipode war hier wohl sein späterer Nachbar in Kalifornien, Bertolt Brecht – (der aber auch für die Musik der zweiten Wiener Schule nicht viel Verständnis aufbringen konnte). In Zürich hat nun, mehr als 50 Jahre nach der Erstaufführung, mit Achim Freyer ausgerechnet einer der letzten noch lebenden Meisterschüler Brechts die Regie in die Hand genommen. Zwar war Freyer noch Brechts Schüler, doch seit Jahrzehnten hat er sich als Bühnenbildner, Maler, Theatermacher gleichsam emanzipiert und auch ein eigenes, umfassendes Werk geschaffen, das sich neben dem Jahrhundertwerk seines Lehrers durchaus behaupten kann. Am Burgtheater Wien, der Deutschen Oper in Berlin, zuletzt in Los Angeles (2008-2010) oder mit der Uraufführung von Lachenmanns 'Das Mädchen mit den Schwefelhölzern' feierte er große, wahrlich ebenso historische Erfolge. 1977 und 1987 war Freyer auch als bildender Künstler auf der Documenta in Kassel zu sehen.
In Zürich, so scheint es nun, hat Freyer die Summa seines bisherigen Lebenswerkes gezogen. Nur am Anfang befürchtet man die Tendenz zur Fülle, zu einem "horror vacui", den schon der Komplexismus in Schönbergs Partitur durchzieht. Doch wie bei Schönberg lichtet sich auch die Regieleistung in der Transparenz schlüssiger Entscheidungen. Asymmetrische Spiegel spalten zunächst ein karges Bühnenbild in einen Nicht-Ort der Einsamkeit und Verlassenheit auf. Die Orientierungslosigkeit der mosaischen Wüste konvergiert mit dem Nichtsagbaren der Unendlichkeit und dem brutalen Entzug des "Deus absconditus". Die Stimmungen wechseln im Zuge der Mannigfaltigkeit der musikalischen Faktur, aber die Atmosphäre der mosaischen Erhabenheit durchzieht doch auch beide Akte kontinuierlich. Was Farb- und Lichtregie angeht, ist Freyer ein wahrer Bühnenmagier! Auch die Disposition der beiden Hauptprotagonisten, Moses und Aron, sorgt für atmosphärisch-rätselhafte Szenarien, die sich als Bilder einbrennen und gleichsam eine seltsam bildlose Statik evozieren. Die Farblichkeit erinnert bisweilen an Freyers Meisterinszenierung der 'Zauberflöte' 2008 an der Dresdner Semperoper. Doch trotz einiger heiterer Momente dominiert natürlich bei Schönberg die Ernsthaftigkeit eines schwerfälligen Narrativs. Die Tragik der Comicfiguren grenzt kontrastierend an Galgenhumor. Nur selten will Freyer das Publikum wirklich unterhalten. Humoristisch ist nur die Schlüsselszene und der musikalische Höhepunkt: Das Goldene Kalb ist ein glänzender Lindthase mit roter Schleife und Kuhglocke - auch natürlich als Hommage an die Schweiz, die so vielen Künstlern während der NS-Zeit ein durchaus dekadentes Exil ermöglichte. Die Musik steigert die Orgie indes ins Makabre. Doch ist auch hier die Stimmung nie nur ironisch oder gar albern. Freyer nimmt Schönbergs Formgefühl beim Wort. Es ist kein postmodernes Theater, sondern strickte Konsequenz, trotz aller Freiheit.
Musikalisch lässt die Zürcher Aufführung keine Wünsche offen und überzeugt auf gleichem Niveau wie die fabelhafte Regieleistung. Die Dominanz der Chöre erinnert im Gestus bisweilen an barocke Oratorien. Sie führt von der solistischen Dominanz des Melos entschieden weg. In Erinnerung bleiben folglich weniger die Sänger als vielmehr die Musik als solche, sei sie vokal oder instrumental. Auch das wäre ein Bruch in der Operngeschichte, und eine Konsequenz, die Schönberg aus Wagner zog. Insgesamt klingt 'Moses und Aron' für die heutige Hörerfahrung nicht dissonanter als das meiste, was Hans Werner Henze in den 1960er Jahren komponierte oder was heute vielleicht ein Matthias Pintscher für die Bühne schreibt. Massentauglich ist die Musik damit natürlich keinesfalls, denn vieles erschließt sich nach wie vor nur mit der Partitur, einem geduldigen Hören, aber auch der Klasse eines Orchesters, das unter Christoph von Dohnanyi durchweg für Transparenz und damit eben auch Verständlichkeit sorgte.
Nur bedingt ließ sich in Zürich indes die von Adorno beschworene Analogie zur Orchestertechnik Mahlers nachvollziehen. Als Kind der Wiener Symphonik konnte Schönberg zwar in gewisser Weise durchaus als "Schüler" Mahlers gelten, als auch er das Klangideal des klassischen Orchesters nie in Frage stellte – doch war der Bruch mit der Tonalität letztlich doch auch ein Bruch mit dem symphonischen Klangpotential. Anders als selbst beim allerletzten Mahler ist der Klang nie das Primat, sondern nur oder zumindest auch Akzidenz der weit wichtigeren Struktur. Man hört dies in der polyphonen Kunstfertigkeit, den komplexen Chorsätzen oder dem präzise artikulierten Sprechgesang. Man hört es aber auch in der Weise, wie Dohnanyi dieses Orchester zu führen weiß. Es ist nicht mehr das expressive Klangfarbenmelos der 'Glücklichen Hand' und noch nicht der Punktualismus Weberns. Auch der Expressionismus ist in 'Moses und Aron' letztlich auf unbestimmte Weise in der Musik selbst aufgehoben. Bei Mahler hätte Klang noch bisweilen für sich selbst gestanden, Raumwirkung erheischt oder gar die ganze Architektur von Grund auf vorgeprägt. 'Moses und Aron' ist dementgegen ein Meisterwerk, weil meisterhaft gesetzt, souverän in allen Belangen der Technik und was die Struktur betrifft wohl unerschöpflicher als alles, was Schönberg zuvor komponierte. Dass die Oper mit der Sentenz, "O Wort, du Wort, das mir fehlt" schließt, mag gerade deswegen ausschließlich das kritische Abbildverhältnis, das unmöglich Sagbare und das (fast) unmöglich Denkbare tangieren. Was sich mit den Mitteln des musikalischen Materials um 1930 zeigen ließ, hat Schönberg ohne Grenzen und ohne Mangel abgerufen. Hier fehlte es ihm an keinem Ton. Auch wenn er uns sein Ideal einer perfekten Komposition nur im Fragment hinterließ.