Wir, die Gezeichneten

Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (06.06.2011)

Aus einem Totenhaus, 04.06.2011, Zürich

«Aus einem Totenhaus» von Leoš Janáček im Opernhaus Zürich

Man kommt vom Bellevue und sieht das Bellevue: Auf dem Vorhang prangt Zürichs berühmte Tramhaltestelle aus der Vogelschau. Doch dann geht es nicht in die «Kronenhalle» wie bei «Ariadne auf Naxos» von Richard Strauss, sondern ins Dachgeschoss eines Hochhauses. Tatsächlich spielt «Aus einem Totenhaus», die letzte Oper von Leoš Janáček, die das Opernhaus Zürich gemeinsam mit der Wiener Staatsoper produziert hat und nun in noch sechs Vorstellungen zeigt, nicht in einem sibirischen Straflager, sondern im Hier und Jetzt. Kalt ist es. Draussen regnet es, drinnen in diesem Klub dominieren, so sieht es der Ausstatter Johannes Leiacker vor, klinisches Weiss und hochglänzender Chromstahl. Die Herren tragen Smoking und geben sich dem mehr oder weniger gepflegten Alkoholkonsum hin – bei mässiger Stimmung, wie die rasch explodierenden Aggressionen erkennen lassen. Kein Wunder, hier herrscht der reine Terror, und da ist er auch schon, der Lagerkommandant (Pavel Daniluk), der vom Regisseur Peter Konwitschny als ein enthemmter Mafiaboss im Dinner-Jacket gezeigt wird, stets begleitet von zwei geschniegelten Kerlen mit Sonnenbrille, denen man lieber nicht begegnen möchte.

Grausamkeitsrituale

Um seinen Deutungsansatz klarzumachen und aufgehen zu lassen, hat sich Konwitschny den einen oder anderen Eingriff erlaubt. Er versteht sich ja nicht als Spielleiter, geschweige denn als Arrangeur szenischer Bilder, sondern als Interpret. Als ein Regisseur, der etwas aussagen will zu den Stücken, ja damit die Werke neu erschaffen will. Und als einer, der seine Aussage laut und deutlich formuliert. Das ist immer wieder anregend – und nicht zuletzt darum so spannend, weil es das Risiko des Scheiterns birgt. Hier ist es nun eingetroffen, das Scheitern. Der Ansatz überzeugt, in der Ausführung wird die Intention jedoch verfehlt.

Eigenartig schon die Eröffnung. Mit den ersten Klängen aus dem Orchestergraben beginnt sich das Bild vom Bellevue zu bewegen. Man sieht das Va et Vient eines gemächlichen Vormittags und gerät darob in eine seltsame Distanz – seltsam darum, weil der Dirigent Ingo Metzmacher mit dem hervorragend aufspielenden Orchester der Oper Zürich die Irritationen, die Janáček von Anfang an in seine Partitur eingebaut hat, scharf herausstellt, das Unstimmige, Bedrohliche also deutlich hörbar macht. Da tut sich ein Widerspruch auf, den man freilich hinnehmen kann; hinter hübschen Fassaden kann sich ja manch Übles ereignen.

Auch die freie, in einer heutigen, rotzigen Sprache gehaltene Übersetzung aus dem Tschechischen, die von der Übertitelungsanlage gezeigt wird, mag hingehen. Anders der Höhepunkt des ersten Akts. Gorjantschikow (Pavol Remenár) tritt dort nicht auf, weil er neu ins Lager eingeliefert wird, er ist vielmehr schon da als einer unter den vielen Besuchern des Herren-Klubs. Er wird auch nicht gepeinigt, weil er sich als Intellektueller zu erkennen gibt, sondern bloss, weil er vom Boss als Opfer der Woche ausgewählt wird. Da wird von Konwitschny jener Nihilismus eingebaut, den der Regisseur in den gesellschaftlichen Verhältnissen unserer Tage erkennt. Indessen führt dieser Eingriff nicht dazu, dass uns die Szene in ihrer schier unerträglichen Grausamkeit näherträte – im Gegenteil, sie verliert an Wirkung, und zudem gerät der Satz des Gequälten, er sei ein politischer Gefangener, deutlich in Schieflage.

Da nützt es wenig, dass Konwitschny das Geschehen in den Zuschauerraum hinüberschwappen lässt. Das plötzliche Aufreissen der Türen, das Eindringen der Darsteller in die Sitzreihen, die scheinbare Behelligung eines rasch skandalisierten Paares von Opernfreunden – das wirkt nun doch reichlich altbacken, ja fast lächerlich. Noch schwieriger das Theater im Theater des zweiten Akts, das zu einer grossen Show wird und derart viel Geräusch entfaltet, dass die Musik restlos untergeht. Was als Zuspitzung gemeint ist, verkommt zum Tableau im Stil der Grand Opéra, nach dem man in die Pause entlassen wird. In der Tat wird «Aus einem Totenhaus» in Zürich mit einer Pause gespielt – wo das Stück doch als versteckter Einakter konzipiert ist und insgesamt weniger lange dauert als der erste Aufzug der «Götterdämmerung».

Feste druff ist das alles – und zu viel des Guten. Der beständige Aktionismus tritt der unglaublichen Brutalität des Stücks störend in den Weg. Wer an die beiden letzten wichtigen Inszenierungen von Janáčeks «Totenhaus» denkt, wird sich dessen bewusst. Patrice Chéreau (2007 in Wien) wie Calixto Bieito (2009 in Basel) sind in der Annäherung des Stoffs an die Gegenwart wesentlich weniger weit gegangen, als es Konwitschny jetzt in Zürich tut. Und doch haben sie den Kern des Werks von Janáček besser getroffen: haben sie die quälende Abwesenheit einer Handlung und damit das lastende Nichtvergehen der Zeit, die dumpfe Brutalität (mit den wenigen Funken an Menschlichkeit) und die Hoffnungslosigkeit schärfer zur Wirkung gebracht. Nicht umsonst gibt es im Theater die Mauerschau; manchmal ist weniger ja mehr.

Menschenschicksale

Allein, auch im Scheitern bleibt Peter Konwitschny die Meisterschaft. Die gedankliche Durchdringung ist unverkennbar und das Handwerk brillant wie stets. Janáčeks «Totenhaus» auf die Jetztzeit anzuwenden, uns alle als die Gezeichneten zu sehen, gezeichnet beispielsweise durch den Zwang zum Konsum und die Normen der Mode – darüber kann lange und fruchtbar nachgedacht werden (und dass nach einem Opernabend nachgedacht werden kann, geschieht ja nicht alle Tage). Wenn einer der Herren im Klub den «Stil»-Bund der besten Sonntagszeitung des Landes liest, ist das ein kleiner Fingerzeig und ein feiner Hieb. Solches macht die Kunst von Peter Konwitschny eben auch aus.

Schliesslich aber erweist er sich auch in dieser Produktion als ein ganz aussergewöhnlicher Menschengestalter. Darum werden die vier grossen Monologe, die das Stück gliedern, zu den eigentlichen Höhepunkten des Abends. Wenn Peter Straka als Skuratow seiner Luisa nachweint und darob den Verstand verliert, wenn Reinaldo Macias als (der hier drogensüchtige, aber vom Tod verschonte) Luka Kusmitsch von seinem Aufstand gegen einen Machthaber mittleren Ranges singt, wenn Raimund Wiederkehr als Schapkin seine im Gefängnis langgezogenen Ohren beklagt und schliesslich Matjaž Robavs als Schischkow die Geschichte seiner unglücklichen Liebe ausbreitet – dann ereignet sich berührendes Musiktheater. Und das nicht zuletzt dank dem Orchester und Ingo Metzmacher, der auch hier sein Gespür für Farbvaleurs einzusetzen versteht.

Das Ende bringt dann wieder eine umwertende Zuspitzung, die als folgerichtig erscheint, aber unnötig ist. Denn ein Entrinnen aus diesem furchterregenden Stück gibt es ohnehin nicht.