Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (06.06.2011)
Mit Peter Konwitschny arbeitet einer der gefeiertsten Opernregisseure zum ersten Mal am Opernhaus Zürich. Zusammen mit Dirigent Ingo Metzmacher brachte er am Samstag Janaceks letzte Oper «Aus einem Totenhaus» auf die Bühne.
Nach Gefängnis sieht es nicht aus auf der Bühne des Opernhauses Zürich: Hell und weiss ist alles, gediegen die Einrichtung, eine Edel-Bar mit gut gekleideten Männern. Aber bald wird deutlich, dass es offene und versteckte Hierarchien gibt, dass hier ein Boss über Leben und Tod entscheiden kann und Gewalt zum Alltag gehört. Wir sind nicht in einem sibirischen Strafgefangenenlager, wie es der russische Schriftsteller Dostojewski in seiner Reportage «Aufzeichnungen aus einem Totenhaus» einst beschrieb und wie es der tschechische Komponist Leos Janacek 1930 für seine Oper adaptierte, die seine letzte und zugleich modernste, eigenständigste, persönlichste werden sollte. Wir sind stattdessen offenbar in einer Luxuswohnung hoch über dem Zürcher Bellevue. Mit Seeblick, wenn es nicht regnen würde.
Keiner kommt lebend davon
Die Mauern dieses Gefängnisses sind subtiler, aber Freiheit gibt es dennoch keine. Nicht einmal für den politischen Gefangenen Gorjantschikow, der in Janaceks Oper am Ende entlassen wird. Hier, das gebieten die ungeschriebenen Gesetze dieser «ehrenwerten Gesellschaft», kommt keiner lebend hinaus. Eine Riesen-Babuschka – eine jener hübsch bemalten russischen Holzfiguren, die man ineinanderstapeln kann – wird zu seinem Grab und seiner «Befreiung», während die Idee der Freiheit, visualisiert in Form eines Adlers und glühend gepriesen vom Orchester, nichts als eine unrealistische Hoffnung bleibt.
Die Hoffnung ist zwar nicht ganz tot, und geblieben sind auch die Erinnerungen: Die Geschichten von Frauen, Rivalitäten und Leidenschaften, die so stark waren, dass man dafür geraubt und getötet hat. In Janaceks Musik haben die Erinnerungen der Gefangenen nicht nur nostalgische Süsse, sondern auch eine emotionale Lebenskraft, die ein Überleben in diesem Gefängnis möglich macht. «In jeder Kreatur ein Funke Gottes» setzte er als Präambel über seine Oper.
Der Regisseur zieht alle Register
Das will Regisseur Peter Konwitschny so nicht mehr gelten lassen, wie sich bei der Premiere am Samstagabend zeigte. Den Spiegel will er uns vorhalten und zieht dafür alle Register: Immer wieder bezieht er den Zuschauerraum lautstark ein, lässt nichts unversucht, uns zu bewegen, Engagement zu wecken, auch Protest. «Die Oper ist das wirksamste Korrektiv für eine Gesellschaft!» steht als starker Satz im Programmheft. Wunschdenken? Der Protest bleibt verhalten, auch am Ende lassen sich die Buhrufe an einer Hand abzählen.
Die Identifikation mit dem Geschehen auf der Bühne wird durch Konwitschnys Aktualisierung wohl nicht wirklich vergrössert: Der Zürcher Gesellschaft dürfte die Mafia ähnlich romantisierend fremd sein wie ein sibirisches Strafgefangenenlager. Und die Schlägereien, Folterungen und die Vergewaltigung einer Nachtclubtänzerin werden im Scheinwerferlicht der Bühne bei allem Engagement immer ganz schnell zu einfach mehr oder weniger gut gespielter Gewalt.
Jede Figur ausgearbeitet
Gut gespielt allerdings ist diese Zürcher Produktion: Der in Frankfurt am Main geborene Konwitschny löst den Chor als Kollektiv völlig auf, gibt jeder Figur individuelle Züge, eigene Geschichten und Leidenschaften und erzählt auf diese Weise sehr viel über diese heterogene Schicksalsgemeinschaft. Sie singen von ihren Erinnerungen, mit Emphase, begleitet von aufgefächerten Klängen und manchmal glühend intensiver Musik aus dem Orchester.
Diese Momente musiziert Dirigent Ingo Metzmacher an der Spitze ei- nes noch nicht in allen Positionen und Momenten sattelfesten Zürcher Opernorchesters mit Lust und Können heraus. Gegenpol seiner packenden Interpretation ist die rhythmische Energie, die Janacek immer wieder über diese Linien hereinbrechen lässt und damit zu viel nostalgische Süsse vermeidet. Zuweilen allerdings hätte Metzmacher die Dynamik etwas weiter zurückschrauben dürfen, hätten subtile Klänge und zerbrechlichere Linien mehr Kraft und Identifikationspotenzial entwickeln können.
Das riesige Ensemble – bis auf eine kleine Rolle alles von Männern gespielt – steht auch so über dem Orchester. Gestandene Sänger wie Reinaldo Macias finden sich in den vielen auch wenig bedeutsamen Rollen. Herausragend sangen bei der Premiere Peter Straka als Skuratov und Matjaz Robavs als Schischkov, vor allem aber war es eine geschlossene Ensembleleistung, gekrönt vom Opernchor. Damit hat das Opernhaus Zürich nur Wochen nach dem sensationellen «Moses und Aron» seine Leistungsfähigkeit in einer wichtigen Oper des 20. Jahrhunderts erneut bravourös unter Beweis gestellt.