Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (06.06.2011)
Peter Konwitschny wird gefeiert und gefürchtet, nun hat er erstmals am Zürcher Opernhaus inszeniert. Seine Sicht von Janaceks «Aus einem Totenhaus» ist allerdings weder zum Feiern noch zum Fürchten.
«Übles Regietheater» sei das, schimpfte der ältere Herr, er packte seine Gattin am Arm und zerrte sie durch die Parkettreihe zum Ausgang. Das war im Jahr 2003, in Hamburg, Peter Konwitschny hatte dort Alban Bergs «Lulu» inszeniert. Nun, in der Zürcher Produktion von Leos Janaceks 1930 uraufgeführter Oper «Aus einem Totenhaus», verlässt wieder ein zeterndes Paar den Saal, nachdem ein Sänger von der Bühne gestiegen war und sich die Frau für ein unfreiwilliges Tänzchen geschnappt hatte.
Konwitschny liebt den inszenierten Eklat, er ironisiert seine Rolle als Bürgerschreck, oder vielleicht zelebriert er sie auch. Vor allem betont er mit dem Einbezug des Publikums, was ihm am meisten am Herzen liegt: dass Oper kein historisches Spektakel ist, keine Dekoration des Feierabends. Sondern etwas, das hier und jetzt brandaktuell ist, das die Gesellschaft nicht nur unterhalten, sondern auch verändern soll und kann.
In dieser Überzeugung trifft er sich mit dem Dirigenten Ingo Metzmacher, mit dem er schon viele denkwürdige Produktionen erarbeitet hat (darunter die Hamburger «Lulu»). Entsprechend hoch waren nun die Erwartungen an diese Janacek-Aufführung. Es ist ein rätselhaftes Werk, das sich den Regeln der Gattung ebenso entzieht wie schon seine Vorlage, Dostojewskis «Aufzeichnungen aus einem Totenhaus», die weder Roman noch Novelle noch Reportage sind. Die Oper hat keine Handlung, keine wirklichen Protagonisten, und abgesehen von einem kurzen Einwurf singen nur Männer. Sie befinden sich – im Original – in einem Sträflingslager in Sibirien, erzählen sich ihre Geschichten und quälen sich zu Tode, begleitet von einem Orchester, das den klanglichen Ölgemälden der Operntradition knappe Skizzen gegenüberstellt.
Sträflingslager, Sibirien: Das ist für Konwitschny natürlich viel zu weit weg vom Zürcher Opernpublikum. Deshalb sehen wir während der Ouvertüre von weit oben aufs Bellevue, auf das Hin und Her der Trams und Passanten, das auf einen transparenten Vorhang projiziert wird. Und deshalb befinden sich die Opernfiguren nicht hinter Gittern, sondern in einem mafiösen Club, der irgendwo sein könnte, auch in einem Haus am Bellevue. Links die Bar, rechts die Dartscheibe, weisse Möbel, schwarze Anzüge: Konwitschnys bewährter Ausstatter Johannes Leiacker weiss, wie man kühle Eleganz herstellt.
Konwitschny selbst wiederum weiss, wie man hitzige Gefühle darstellt. Die Aggressionen und Tätlichkeiten zwischen den Männern beschränken sich keineswegs auf Operngesten. Da werden Flaschen auf Köpfen zerschlagen und Gürtel als Peitschen verwendet, es wird gefoltert und gedemütigt. Und die Stripshow, als die Konwitschny das Don-Juan-Theater im zweiten Akt zeigt, ist derart unappetitlich, dass man den nahtlosen Übergang in eine rohe Schlägerei durchaus nachvollziehen kann.
Exodus in der Pause
Nach dieser Schlägerei ist Pause. Die Verletzten werden verarztet (im dritten Akt tragen sie Verbände und blutige Striemen), und etliche Paare aus dem von Anfang an auffallend dünn besetzten Parkett verlassen den Saal endgültig. Nicht auf Geheiss des Regisseurs, sondern weil sie genug haben. Konwitschny, das mittlerweile doch schon 66-jährige und international arrivierte Enfant terrible, vermag immer noch zu provozieren.
Und doch: Der erwartete Buhsturm am Ende blieb aus. Es gab ein paar Protestrufe, einen sehr kurzen, kühlen Applaus. Man schaffte es knapp, ein zweites Mal den Vorhang zu öffnen, bevor sich die verbliebenen Zuschauer ihre Jacken holten. Ein Opernskandal sieht anders aus. Ein Opernerfolg auch. Und während man in Richtung Bellevue geht, denkt man, dass Sibirien eigentlich nicht viel weiter weg ist als dieser weisse Raum mit diesen schwarz gekleideten Männern.
Kraft der Klänge
Woran liegt das? Warum lässt einen dieses brutale Geschehen wenn nicht kalt, so doch ziemlich lauwarm? An der Musik fehlt es nicht, die zieht einen vom ersten Moment an in ihren Bann. Schlicht und doch vertrackt ist die kurze Melodie, an der sich das Orchester zu Beginn festkrallt, immer wieder kommt sie, immer wieder etwas anders – man könnte Janacek glatt für den Erfinder der Minimal Music halten. Und Ingo Metzmacher hat einen Sinn für die Beharrlichkeit dieser Musik, für ihre Unruhe und ihre Abgründe.
Jahrzehntelang wurde das Werk nur in einer Bearbeitung gespielt, weil man die Instrumentation für unvollständig hielt; in dieser Zürcher Aufführung ist zu hören, welche Kraft in den scheinbar fragmentarischen Klängen der Originalpartitur steckt. Wenn kleine Motive geradezu manisch repetiert werden, wenn keinerlei Füllstimmen den akustischen Graben zwischen hohen und tiefen Instrumenten schliessen, wenn immer wieder fremde Töne die Harmonien aus ihrem Gleichgewicht bringen: Dann erzählt das mindestens so viel über das Leiden und die Sehnsüchte der Protagonisten wie der Text.
Dazu passt, dass die Stimmen aus dieser Begleitung hinauswachsen und manchmal auch in ihr verschwinden. Die Protagonisten – Pavol Remenár, Ilker Arcayürek, Reinaldo Macias, Pavel Daniluk, Raimund Wiederkehr und viele weitere – singen meist nur kurze Phrasen, und auch die Chormänner sind als schweigende Darsteller ebenso gefordert wie mit ihren sonoren Einwürfen. Am opernhaftesten können sich Peter Straka und Matjaz Robavs bewähren in ihren Erzählungen über Frauen, die grossen Abwesenden in diesem Stück: über Luisa, die einen anderen heiraten sollte, und über Akulka, die den Falschen liebte.
Es sind die Geschichten von Sträflingen, die eine unmögliche Liebe mit einem Mord erst recht unmöglich machten. Es könnten auch die Geschichten von Männern und Frauen sein, die mit uns im Tram sitzen oder übers Bellevue gehen. In diesem Sinn geht Konwitschnys Umdeutung der Oper durchaus auf. Nur hat er sich mit seiner Entscheidung, die Männergesellschaft als mafiösen Verband darzustellen, sozusagen selbst ein Bein gestellt. Zu oft schon haben Regisseure den Opernbösewichten schwarze Hüte und Sonnenbrillen aufgesetzt, zu oft wurden Machtspiele und Machtmissbrauch ins Umfeld der organisierten Kriminalität übertragen. Wer heute ein Operngeschehen mithilfe der Mafia aktualisieren will, ersetzt nur noch ein Klischee mit dem anderen.
Matrioschkas streicheln
Es grenzt an Ironie des Schicksals, dass Peter Konwitschny, der immer und oft erfolgreich gegen Klischees angeht, gerade in diese Falle getappt ist. Und es ist nicht die Einzige. Von der zwar lustigen, aber doch auch etwas einfallslosen Wiederholung des inszenierten Eklats war schon die Rede. Und selbst bei einem seiner Lieblingsthemen, dem Kampf gegen die Erniedrigung der Frauen, sind dem Regisseur diesmal mit den Prostituiertenkostümen und der Stangenakrobatik im Don-Juan-Theater nur altbekannte Bilder eingefallen.
Berührend ist die Aufführung dagegen exakt dann, wenn Konwitschny kein «übles Regietheater» macht, sondern jene Metapher findet, die alles klärt. Dann kommen Matrioschka-Puppen in allen Grössen aus dem Bühnenboden, und die Männer halten und streicheln sie, als seien sie die Mütter und die Geliebten, die hier so sehr vermisst werden.
Wer heute eine Oper mit Mafia-Gestalten aktualisieren will, ersetzt nur ein Klischee mit einem anderen.