Sibirien in aller Welt

Herbert Büttiker, Der Landbote (06.06.2011)

Aus einem Totenhaus, 04.06.2011, Zürich

Der Ruf als Enfant terrible der Opernregie eilt ihm voraus. Peter Konwitschny ist aber vor allem ein unbedingter Gegenwartskünstler. Das Sibirien von Janáceks «Aus einem Totenhaus» rückt er in die Nähe, ans Bellevue, ins Opernhaus.

Nach Arnold Schönberg jetzt Leos Janácek. Dort der grosse biblische Stoff, hier Fjodor M. Dostojewskis Reportage vom eigenen Aufenthalt als politischer Häftling in der sibirischen Strafkolonie. Daraus zitierend destillierte der Komponist sein Libretto, das in vielen einzelnen Episoden in menschlichen Abgründen lotet. «Moses und Aron» und «Aus einem Totenhaus», im selben Zeitraum entstanden, sind Repräsentanten der klassischen Moderne von stärkstem Kontrast, und gegensätzlicher könnte auch der Ansatz der Inszenierungen nicht sein, die das Opernhaus zeigt. Dort Achim Freyers hermetisches Bilderbuch, hier nun Peter Konwitschnys Raum-Theater, das im Hier und Jetzt die Grenzen zwischen Bühne und Zuschauerraum auflöst, Darsteller und Publikum durcheinanderbringt, in eins setzt.

Ein Steg führt über den Orchestergraben, Herrenanzüge werden jenseits wie diesseits getragen, im Parkett gibt es Streit zwischen der Opernfigur und (fiktivem) Publikum. Wenn es im Saal hell wird, die Türen offen stehen, fühlt man sich hier ausgestellt wie auf einer Bühne. Neu ist all das ja nicht (allenfalls im Opernhaus wenig genutzt), aber die Inszenierung schafft so mit präzisen Interventionen eine Atmosphäre von Gegenwart, die mit der Idee der «Aktualisierung» der Oper gründlicher ernst macht als in den vielen Fällen, wo sie sich darauf beschränkt, die Figuren neu einzukleiden.

Sibirische Geschäftswelt

Zum Vorspiel lässt eine riesige Projektionsfläche auf das Tun und Treiben am nahen Bellevue-Platz blicken. Dann verwandelt sich die Bühne des Opernhauses in die Business-Lounge im obersten Geschoss eines Bürohochhauses. Regen rinnt an der Glasfront im Hintergrund, weiss und glatt sind die hohen Säulen, die Wände, das Mobiliar – ein in der Wucht und Kälte grossartiges Bild von Johannes Leiacker steht hier anstatt Janáceks Gefängnishof in der sibirischen Einöde. Statt Häftlinge verbringen hier «normale» Geschäftsleute ihre Zeit, und was sich dann in anderthalb Stunden hier zeigt, ist die Analyse einer mafiösen Männerwelt, ihrer Mechanismen der aggressiven Selbstbehauptung, der demütigenden Abhängigkeiten, der sadistischen Unterwerfung.

Erzählerisch löst sich Konwitschny oft ganz vom Text, und auch die Übertitelung folgt mit «Wichser»-Vokabular und Drogenthematik den zeitgemässen Bildern. Aber als metaphorischer Bezugspunkt bleibt Janáceks Strafkolonie das Zentrum – in der ganzen Überschärfe seiner Musik, die den Komponisten zu schroffer Rhythmik und knirschender Harmonik auch rasselnde Ketten als Instrumente in die Partitur setzen liess.

Die Musik beschreibt allerdings nicht nur die entmenschlichte Situation in der Strafkolonie, von Ausbrüchen der Gewalt, des Wahnsinns, der rohen Sexualität. Dahinter oder sogar darin gibt es den lyrischen Impuls, das Wetterleuchten von Sehnsucht und Zartheit, den Anflug hymnischer Freiheitsgefühle. «In jeder Kreatur ein Funke Gottes» – das Motto, das Janácek über seine Partitur schrieb, lässt diese Sphäre als die Hauptsache erscheinen. Mit anderen Worten: Er hat auch mit seiner letzten Oper noch einmal ein Stück über die Liebe, eine «Frauenoper» geschrieben, allerdings, in der extremen Variante der reinen Männeroper, die von der Abwesenheit der Frau und ihrem Wesen in der Musik geht.

Sternschnuppen

So ist denn auf die Musik zu hören. Der Dirigent Ingo Metzmacher, der ihr mit dem Orchester der Oper die zupackende Wucht, die gleissenden Farben und den sanften Glanz flüchtiger Seligkeiten gibt, empfiehlt eine ganz besondere Hörbereitschaft: «Vergleichbar nur dem wachen Auge, das, auf den nächtlichen Himmel gerichtet, die Sternschnuppe im Moment ihres Verglühens erhascht» – so zitiert ihn das Programmheft, und als Kompliment an das Orchester und ihn sei es hier wiedergegeben. Zu bewundern ist die intensive Klangpräsenz auch vieler Solostimmen und bei der kaleidoskopartigen Instrumentation die Präzision im Zusammenspiel, auch mit dem Ensemble auf der Bühne, mit dem Herrenchor – grossartig wie da jeder im Spiel eine Figur für sich ist – und den Protagonisten. Den einen Protagonisten gibt es in dieser Oper nicht, in den Fokus rücken viele, Pavel Daniluk als Kommandant, Pavel Remenár als Gorjantschikow vor allem als Darsteller des sadistischen Kommandanten und seines willkürlichen Opfers. Grosse musikalische Aufgaben fallen denen zu, die in längeren Monologen ihre Geschichte erzählen: mit grösster Dringlichkeit gestalten sie Reinaldo Macias als Luka, Peter Straka als Skuratow, Raimund Wiederkehr als Schapkin und überragend Matiaz Robavs als Schischkow.

Von Verbrechen aus gekränkter Liebe erzählen Skuratow und Schischkow, der eine hat seinen Rivalen umgebracht, der andere seine Frau. Sie erzählen davon in Musik voller Grauen und süsser Erinnerung, und auf überraschende und verstörende Weise offenbart auch die Inszenierung den wunden Punkt dieser Männerwelt.

Das Theater der Häftlinge in der Mitte der Oper, hier eine Kostümfete (Häftlingskleider!) in der Lounge, zeigt drastisch, welche Rolle sie den Frauen zugedacht hat: Sie spielen im Amüsierbetrieb ihre Wegwerfrolle. Die Lust schlägt um in Gewalt, Gewalt gegen die Frauen, Gewalt der Männer unter sich. Dann, in der Betäubung in der Lazarett- und Nachtstimmung des dritten Aktes, während Schischkow von der Reinheit seiner Braut erzählt und die Musik wegschweift, füllt sich die Bühne mit Matrjoschkapuppen. Jeder nimmt eine in den Arm.

Der surreale Einbruch im drastischen Treiben legt Innerstes bloss. Aber der traumverlorene Moment kippt, wenn Gorjantschikow in die grösste Puppe gesteckt wird und der Kommandant auf sie schiesst. So bitter wird man – dazu Janáceks grimmiger Marsch, der den Alltag im Lager bestimmt – aus dem «Totenhaus» entlassen, oder auch nicht. Vor dem Opernhaus ist hier im Opernhaus.