Vom Vergletschern der Gefühle

Dennis Roth, Badische Zeitung (06.06.2011)

Aus einem Totenhaus, 04.06.2011, Zürich

Peter Konwitschny, der erstmals am Opernhaus Zürich arbeitet, inszeniert und Ingo Metzmacher dirigiert Leos Janáceks "Aus einem Totenhaus". Das Verhältnis zwischen Realismus und Abstraktion ist dabei brüchig, das Regiekonzept reibt sich am Operntext.

In diesem Gefangenenlager geht’s lustig zu. Die Männer, elegant im Anzug, spielen Karten, schäkern, besaufen sich. Der Regisseur Peter Konwitschny hat für seine erste, bei der Premiere nicht ausverkaufte Inszenierung an der Zürcher Oper die Strafkolonie von Leos Janáceks "Aus einem Totenhaus" aus der sibirischen Steppe in die weiß möblierte Lounge eines Hochhauses übertragen. Regen rinnt an den Panoramascheiben hinab. Überwachungskameras zeichnen das karge, abgründige Geschehen auf (Bühne und Kostüme: Johannes Leiacker).

Keine Frage, Konwitschny kennt seinen Brecht. Er hat, bildlich gesprochen, die Gefängnistore geöffnet und arbeitet im Sinne des Epischen Theaters mit Verfremdungen (etwa dem vulgären Jargon der Übertitel). Schon während der Einleitung, deren Rhythmik das hervorragend spielende Orchester unter der Leitung von Ingo Metzmacher elastisch musiziert, öffnet eine Projektion auf den Vorhang den Theaterraum. Ein Platz in Zürich, Passanten eilen durchs Bild, Trams fahren vorbei: Wir alle sind Gefangene. Doch das Verhältnis zwischen Realismus und Abstraktion ist brüchig, das Regiekonzept reibt sich am Operntext. Herumlungernde Businesstypen sind eine widersprüchliche Erscheinung; undeutlich bleibt, was sie gefangen hält, unglaubwürdig ist ihre sexuelle Not: Männer in ihrer Position können sich doch alles leisten. Im Zentrum der dramaturgisch eigenwilligen Oper, deren Libretto der Komponist nach Dostojewskis "Aufzeichnungen aus einem toten Haus" einrichtete und die 1930 zwei Jahre nach Janáceks Tod in Brünn uraufgeführt wurde, steht eine Don-Juan-Pantomime. Theater auf dem Theater, hier als Umkehrung: Die Männer tragen nun Sträflingskleidung. Und erfreuen sich an einer Stripshow, die in Porno-Posen erstarrt. Diese Lach- und Lustgesellschaft artet aus in Vergewaltigung und Schlägerei.

Stichwort: Aufbrechen der theatralen Illusion. Reinaldo Macias, der mit seinem muskulösen Tenor eine glaubhafte Vorstellung als Luka Kusmitsch gibt, läuft auf einer Brücke singend über den Orchestergraben und zwingt eine Zuschauerin zum Tanz, bis ihr Begleiter wutentbrannt mit ihr den Saal verlässt. Ein Vorfall, von dem wir mal annehmen wollen, dass er fingiert ist. Jedenfalls klaffen nach der Pause weitere Lücken in den Reihen.

Das erste Wort hat der gut choreografierte Männerchor (Einstudierung: Ernst Raffelsberger), der eigentliche Hauptdarsteller. Die Brutalität des Kollektivs zeigt er druckvoll, voluminös und schlagkräftig nicht nur im übertragenen Sinn. In dieser Umgebung vergletschern die Gefühle; nur in der Beziehung zwischen dem politischen Häftling Gorjantschikow (Pavol Remenár) und dem jungen Aljeja (ergreifend: Ilker Arcayürek) scheint so etwas wie Intimität auf. Das Opernorchester erfreut mit einer geradezu mustergültigen Behandlung von Janáceks kleingliedrig organisierter Musik, die mit ihren abrupt wechselnden Stimmungslagen unberechenbar ist. Energisch vorwärtstreibend zurrt es die Höhepunkte im musikalischen Gedankenfluss fest.

Die Dramatik ist in die Erzählungen der Gefangenen ausgelagert, etwa in die von Skuratow: Peter Straka gestaltet vital, im Forte neigt sein Tenor zur Eintrübung. Nach der packenden ersten Hälfte zieht sich der dritte Akt zunächst. Doch bei Schischkows Schilderung seines Verbrechens (souverän: Matjaz Robavs) färbt sich das sonst so kalte Licht bläulich (Jürgen Hoffmann), Schneeflocken rieseln herab, eine riesige Matroschka erscheint. Die Männer schmiegen sich an die russischen Puppen, wiegen die kleineren Exemplare im Arm. Der Lagerkommandant, hier ein mit der Knarre herumfuchtelnder Mafiaboss (überzeugend grobschlächtig: Pavel Daniluk) zwingt Gorjantschikow, in die Hülle zu steigen. Dann erschießt er ihn, in krasser, aber konsequenter Abweichung vom Libretto. Keine Freiheit, nirgends. Die Bühne hat sich geleert, einer schmettert dem Publikum ein "Marsch!" entgegen. Wohin? Das bleibt offen am Ende dieser spannungsreichen Inszenierung.