Hans-Klaus Jungheinrich, Frankfurter Rundschau (06.06.2011)
Der Dirigent Ingo Metzmacher und der Regisseur Peter Konwitschny versuchen in Zürich, Leos Janáceks Oper „Aus dem Totenhaus“ rigoros neu zu lesen.
Nicht, dass Leos Janáceks letzte Oper „Aus einem Totenhaus“ auch nur das mindeste mit kulinarischem Behagen zu tun hätte. Doch das Unbehagen an der Straflager-Szenerie dieses (auf einen Dostojewskij-Stoff zurückgehenden) Stückes ist anderer Art. Zumal im altväterlich-gediegenen Opernhaus von Zürich, einer Kerntopographie besitzbürgerlicher Arriviertheit, mag die Konfrontation mit einem derartigen Elendsort etwas frivol Exotistisches bedeuten. Die Markierung des Schauplatzes „Sibirien“ kann dafür sorgen, dass die Zuschauer sich von den dargestellten menschlichen Grenzsituationen nicht betroffen fühlen. Eine Haltung, die dem dramatischen Appell Janáceks nicht gemäß wäre.
So verfielen der Dirigent Ingo Metzmacher und der Regisseur Peter Konwitschny (durch langjährige Zusammenarbeit gestählte Partner) auf eine verblüffende Lösung. Sie eliminierten das Gulag-Ambiente und versetzten den epischen Dreiakter in eine brenzlig nahe Umgebung: in das Interieur eines der notorisch modernistischen Business-Hochhäuser aus Stahl, Beton und Glas. Johannes Leiacker realisierte ein großzügiges Bühnenbild mit monumentaler Bar und eleganten Möbelgruppierungen – Nachbildung einer anonymen, Weltläufigkeit signalisierenden Hotellobby oder eines splendiden Penthouse-Gesellschaftsraumes. Noch mehr Nähe suggerierte der mit dem Orchestervorspiel koordinierte Filmblick auf die Kreuzung und den Haltestellen-Pavillon am Bellevueplatz vor dem Opernhaus.
Ein makabrer Herrenabend von Smokingträgern, deren honorige Fassade bröckelt, so dass die Gesellschaft im Schlussakt – blutbespritzte Hemden, verbundene Köpfe – in Lazarettpersonal verwandelt scheint. Die bürgerliche Schale ist schnell durchstoßen, und Angst, Abhängigkeit und Gewalt bestimmen auch hier das Geschehen. Man könnte an den Treffpunkt verfeindeter Gangsterclans denken oder an die Schulungsveranstaltung einer dubiosen Security-Gruppe.
Das „Theater im Theater“ in der Mitte der Oper funktioniert nicht als verzweifelte Sonntagsbeschäftigung der Häftlinge, sondern als deftige Porno-Einlage mit einem „realistisch“ engagierten Nuttenteam. Gorjantschikow, dessen Ankunft und Entlassung die Oper rahmt, wird hier nicht befreit, vielmehr (in einer dekorativen „russischen Puppe“) exekutiert, wodurch die ohnedies heuchlerische Schlussansprache des Bosses – er führt dazu sein Opfer sadistisch als Kettenhund vor – vollends ins Höhnische gesteigert wird. So weit, so gut.
Konwitschny und Metzmacher dachten dabei sicher an die existentialistische Metapher Sartres – „Die Hölle, das sind die anderen“ –, also das tendenziell Wölfische der alltäglichen Jedermänner („Aus einem Totenhaus“ ist, bis auf eine winzige Partie, ja eine pure „Männeroper“). Und sie dachten vielleicht auch an Luis Buñuels grandiosen Film „El angel exterminador“, der eine feine Gesellschaft zeigt, die sich aus dem rätselhaften Bannkreis ihres Eingeschlossenseins nicht zu befreien vermag.
Dem Konzept dieser Janácek-Interpretation fehlt freilich die letzte Schlüssigkeit. Im beweglicheren Netz moderner Abhängigkeiten, Borniertheiten und Gewalterfahrungen lassen sich Dostojewskij-Elemente wie Mann-zu-Mann-Rempeleien sicher glaubwürdiger unterbringen als die vier großen Beichten – Kurzbiografien „überflüssiger“ Individuen aus einer Zeit, die noch an existentielle Sinngebung glaubte. Vielleicht ist es doch ein Trugschluss, durch den Wechsel von Kulissen Aktualität herbeizwingen zu wollen.
Das dramaturgisch einzigartig kühne, aber auch schwierige Werk erlebte vor drei Jahren in Wien (mit Patrice Chéreau und Pierre Boulez) sozusagen eine interpretatorische Quadratur des Kreises, weil unter Beibehaltung des Schauplatzes eine visionäre Belebung der Einzelschicksale stattfand. In Zürich stachen diese gesungenen Bekenntnisse der Sträflinge Luka, Skuratow, Schapkin und Schischkow gleichsam fremdartig wie Inkunabeln aus dem Ganzen. Die Sänger Reinaldo Macias, Peter Straka, Raimund Wiederkehr und Matjas Robavs seien genannt, auch als Stellvertreter einer hochkarätigen, charakteristisch beteiligten Solisten-Equipe.
Aufgewertet auch die Rahmenfigur des jung, intellektuell und verletzlich gezeichneten Gorjantschikow (Pavol Remenár). Die teilweise von Konwitschny stammende deutsch-englische Übertitelung scheute vor forciertem Zeitgeist-Jargon nicht zurück. Natürlich gab es die konwitschny-spezifische Durchlöcherung der „vierten Wand“: die in Zuschauerreihen sich drängenden oder aus geöffneten Parketttüren die Bühnenereignisse kommentierenden Mitspieler – auch akustische Raum-Attraktionen wie der am zweiten Aktende – danach wurde eine nicht sehr überzeugende Pause eingelegt – hinter dem Auditorium bedrohlich dröhnende Trommelwirbel.
Musikalisch war der Abend bei Ingo Metzmacher in den besten Händen. Das Nackte, Kahle, Fettfreie des Janácek’schen Orchesterklangs war minuziös herauspräpariert, und viel Aufmerksamkeit widmete Metzmacher der in Brüchen und Abruptheiten quasi übergangslos sich zusammensetzenden Diktion und dem schneidenden Dissonanzenreichtum einer im Grunde tonalen und gewissermaßen sprachähnlich-verständlichen Musik. Der Zürcher Abend war ein interessantes, wenn auch vielleicht nicht sehr viel weiter führendes Janácek-Experiment.