Eine Strafkolonie mit Panoramasicht aufs Bellevue

Bruno Rauch, Mittelland-Zeitung (07.06.2011)

Aus einem Totenhaus, 04.06.2011, Zürich

Opernhaus Zürich Peter Konwitschny rückt die Gulag-Oper «Aus einem Totenhaus» von Leos Janácek nah ans Heute

Regisseur Peter Konwitschny und Dirigent Ingo Metzmacher zeigen Janáceks Gulag-Oper mit schonungsloser Härte und rücken das Werk dank rigorosem Schauplatzwandel nah ans Heute. Regen prasselt fast unaufhörlich gegen die Scheiben. Auch Alkohol fliesst in Strömen, in Peter Konwitschnys Inszenierung von Leos Janáceks letzter Oper. Das Libretto stammt vom Komponisten und basiert auf Dostojewskis autobiografisch gefärbten «Aufzeichnungen aus einem Totenhaus».

Konwitschny und sein Ausstatter Johannes Leiacker transferieren den Schauplatz von der originalen sibirischen Strafkolonie ins 44. Stockwerk eines modernen Glas-Beton-Baus. Panoramafenster im Hintergrund geben den Blick aufs benachbarte Hochhaus frei. Eine gestylte Bar, weisse Ledermöbel, Klubtischchen lassen an die Mall eines Nobelhotels denken oder einen Privatklub mit hohem Testosteronpegel. Der Tiefblick aufs zürcherische Bellevue mit seiner alltäglichen Hektik, während des Vorspiels auf dem Vorhang projiziert, rückt das Geschehen noch näher an uns heran.

Kontrastwirkung

Was sich in diesem schicken Ambiente tut, ist indes alles andere als nobel. Die Sträflinge des Gulags sind geschniegelte Herren in Smoking und Fliege, Mitglieder einer Mafia-Gang. Es herrschen schiere Brutalität, Aggression und die ritualisierten Machtspiele einer hermetischen Männergesellschaft: Gefangene ihrer selbst und eines zweifelhaften Ehrenkodexes. Koksen, Saufen, Prügeln. Dem Neuling wird erst einmal mal die Hierarchie des Clans handfest eingebläut.

Das wird mit drastischem Realismus vorgeführt und geht unter die Haut. Es macht Sinn, das Episodische des Werks, das nicht einem eigentlichen, dramaturgisch geknüpften Erzählstrang folgt, in einem Einheitsbühnenbild spielen zu lassen. Störend ist allerdings die Pause, was die emotionale Dichte ungehörig aufbricht. Die originale schäbige Theateraufführung der Gefängnisinsassen wird zur Porno-Show. Dazu streifen sich die sexuell ausgehungerten Männer Sträflingskittel über, was die Darbietung endgültig zur perversen Farce werden lässt.

Das ist in sich absolut stimmig, zeigt aber auch die Problematik des sonst schlüssigen Regiekonzepts, das hier etwas schal und repetitiv zerfasert, während die originalen Theater-im-Theater-Sequenzen grotesker und anspielungsreicher daherkommen. Grossartig dagegen ist die Erzählung des Gattenmörders – intensiv: Matjaz Robavs –, zu welcher eine riesige Matrjoschka-Puppe emporsteigt, was jedem ein Püppchen zum Herzen und Kosen beschert: ein schönes Bild für die Sehnsucht nach Zuneigung in diesen harten Kerlen.

Musikalische Power

Ingo Metzmacher und das wache Opernorchester schaffen ein der inhaltlichen Härte adäquates Klangbild. Mit konzisem Drive treibt die Musik vorwärts, führt die düstere Sprödigkeit und lodernde Expressivität mitunter bis an die Schmerzgrenze, um dann unversehens ein Fenster zu einem lichten, utopisch-fernen Universum aufzustossen.

Das kollektive Kunstwerk verbietet es nahezu, die Leistung Einzelner gesondert zu würdigen; allesamt profitieren sie von einer hochpräzisen Personenführung. Hervorgehoben seien dennoch Reinaldo Macias’ beklemmende Darstellung des Kusmitsch, Peter Strakas irrlichternder Skuratow und das anrührende Profil des gedemütigten Gorjantschikow, gesungen und schonungslos gespielt von Pavol Remenár.