Und das soll Sibirien sein?

Gerhard Rohde, Frankfurter Allgemeine Zeitung (06.06.2011)

Aus einem Totenhaus, 04.06.2011, Zürich

Eine typische Untat des Opernregisseurstheaters: Peter Konwitschny verlegt in Zürich Leoš Janáčeks Gefangenen-Passion „Aus einem Totenhaus“ in den vierundvierzigsten Stock eines durchgeknallten Party-Hochhauses.

Wo liegt Sibirien? Wo befindet sich das Lager für die Strafgefangenen? Für den Komponisten Leoš Janáček und den Dichter Dostojewski, nach dessen Roman „Aufzeichnungen aus einem toten Haus“ Janáček sich selbst das Libretto für seine Oper schrieb, war die Frage schnell beantwortet: natürlich in Sibirien. Damit kann sich natürlich ein moderner Opernregisseur nicht zufriedengeben. Sibirien heute ist überall. Auch in einem Hochhaus im vierundvierzigsten Stockwerk. Dorthin verlegten jetzt an der Zürcher Oper Regisseur Peter Konwitschny, Bühnen- und Kostümbildner Johannes Leiacker mit Zustimmung des Dirigenten Ingo Metzmacher Janáčeks späte Oper „Aus einem Totenhaus“.

Statt der gewohnten Elendsgestalten im Strafgefangenenoutfit erblickt man im modernen Loft-Ambiente eine elegante Männergesellschaft: Abendanzug vorgeschrieben. Der brutale Kommandant des Originals avanciert hier zum Mafia-Boss (wobei die Mafia-Chiffre allmählich ziemlich verbraucht ist). Die feinen Herren fallen alsbald aus ihren Smokings und in die alten Rollenklischees zurück und benehmen sich eben wie rüde Strafgefangene, denen die Extremsituation allmählich an die Nerven geht. Einer wird „gedemütigt und zusammengeschlagen“ (aus der Inhaltsangabe im Programmheft), ein Zweiter beginnt mit seiner Erzählung aus der Vergangenheit, wie er einen „selbstgefälligen Major“ erstochen hat.

Für den Regisseur Anlass genug, die versammelten Clubmitglieder ins entfesselte Theater zu schicken. Die Sänger-Darsteller toben mit erkennbarem Vergnügen über die Bühne und durch den Zuschauerraum, tauchen in Ranglogen auf, öffnen die Saaltüren und schlagen sie wieder zu, Hauptsache: Spaß! Das Publikum soll mitspielen. In der ersten Parkettreihe wird ein älteres Ehepaar von einem Akteur hart bedrängt und verlässt empört den Raum. Ach ja, diese mitinszenierte scheinbare Spontaneität! Man merkt die Absicht und ist angeödet.

Kein Platz für romantische Natursymbolik

Im zweiten Akt geht es auf diese Weise flott weiter. Während die Vorbereitungen für die eingebaute Theateraufführung laufen, erzählt der Nächste seine Liebesgeschichte: Weil die Eltern des Mädchens einen anderen, reicheren Bewerber wünschten, blieb dem armen Schlucker nichts anderes übrig, als den Rivalen zu erschießen. Deshalb sitzt er nun im vierundvierzigsten Geschoss fest und darf sich eine Don-Giovanni-Paraphrase in Form einer abgestandenen Reeperbahn-Show ansehen: Sex auf dem Theater ist ein spezielles Ding, das nur wenigen gelingt. Man staunt immer wieder, wie alte Klischeenummern nicht aus den Köpfen mancher Theatermacher herausfinden. Peinlicher berührte allerdings, dass sich die zuschauenden Herrschaften für die Aufführung Sträflingskleidung überwerfen: das Totenhaus als Kostümfest. Das hat nun mit Janáčeks Intentionen und seiner Musik kaum noch etwas gemein. Wo sich doch Regisseur und Dirigent besonders vehement auf die Feinheiten und den Anspielungsreichtum der Musik kaprizieren.

Im dritten und letzten Akt zeigt sich die Gesellschaft ziemlich derangiert. Die Jacketts sind abgelegt. Viele tragen Blutspuren auf den weißen Hemden. Katerstimmung breitet sich aus. Einer erzählt die letzte der vier Geschichten, in denen es immer um die Liebe geht: die tödlich endende Liebe. Ein anderer darf am Ende in die Freiheit gehen. Wie der geheilte Adler, der hier aber nicht vorkommt. Für romantische Natursymbolik ist im Hochhaus kein Platz.

Was Konwitschny und Metzmacher anstrebten, war wohl, ein Grundgefühl des Werkes, die Sehnsucht nach Liebe, die alle Gefangenen erfüllte und sie zu Verbrecher werden ließ, für unsere Gegenwart zu gewinnen; die Erosion unserer Gefühlswelt aufzuzeigen, die Verkümmerung unserer Emotionen. Dass Janáčeks Musik in ihrer Lakonik, in der präzisen Kürzelhaftigkeit, mit der sie Situationen blitzschnell zu erhellen vermag, das Vorhaben hätte stützen können, steht außer Frage.

Zum szenischen Flachrelief fügte sich ein musikalisches

Eine zweite Frage wäre: Könnte man diese emotionale Direktheit nicht besser aus dem Blickwinkel der Vergangenheit erreichen, aus der punktgenauen Projektion der alten Figuren und deren Geschichten auf die Gegenwart und ihre Menschen? Also genau umgekehrt wie in dieser Aufführung, die diese Projektion nicht bietet, sich vielmehr in einer neuen Dekoration erschöpft, in der sich die alten Geschichten seltsam fern und fremd ausnehmen, weil ihre Figuren in einer oft überbordenden Spielastik untergehen.

Dass Ingo Metzmacher mit dem Zürcher Opernorchester das Inszenierungskonzept engagiert unterstützen würde, konnte man erwarten. Aber bei aller Detailgenauigkeit und klanglichen Durchlichtung der Partitur vermisste man auch die Zwischenwerte. Weichere Farbzeichnungen, geschmeidigere Klangstufungen bedeuten nicht von vornherein eine Einbuße an Präzision. Insgesamt ergab sich der Eindruck einer gewissen Gleichförmigkeit des Ausdrucks, auch der Lautstärkenskala. Zum szenischen Flachrelief fügte sich ein musikalisches.

Ein Aktionismus, der sich selbst genügt

Den Sängern darf man bescheinigen, dass sie sich mit großer Intensität und oft enormem Körpereinsatz für die Inszenierung und ihre Rollen einsetzten. Stellvertretend für die fast zwei Dutzend Mitwirkenden seien Pavo Remenár als Gorjantschikow, Pavel Daniluk als „Kommandant-Mafioso“, Peter Straka als Skuratow, Reinaldo Macias als Luka und als Schischkow der überragende Matjaz Robavs genannt. Dass sie oft irgendwie gespalten zwischen den alten Geschichten und dem aufgezwungenen Gestus der neuen Inszenierung wirkten, haben sie nicht zu vertreten. Konwitschnys Personenführung treibt die Sänger häufig in einen Aktionismus, der sich selbst genügt. Das war hier besonders schmerzlich erfahrbar.

Die Premiere brachte daneben noch einen ungewohnten Anblick: viele leere Plätze, für Zürcher Verhältnisse ungewöhnlich. Im starken Beifall für die Sänger schwang auch eine Portion Ratlosigkeit über das Werk und seine Darstellung mit.