Mit Smoking im Straflager

Christine Lemke-Matwey, DIE ZEIT (09.06.2011)

Aus einem Totenhaus, 04.06.2011, Zürich

Peter Konwitschny inszeniert Janáčeks "Aus einem Totenhaus" in Zürich.

Die Männerwelt ist aus den Fugen, und man muss nicht Alice Schwarzer heißen, um die jüngsten Prominenten-Fälle dahingehend zu deuten, dass es außer Sex and Crime nicht viel zu geben scheint, was das starke Geschlecht noch aus seiner gusseisernen Fassung bringt. Der erklärte Frauen-Regisseur Peter Konwitschny hält es am Zürcher Opernhaus nun ganz mit den Herren von der Hamburg-Mannheimer, die für ihre Versicherungsabschlüsse bekanntlich mit handfesten Fleischesdiensten belohnt wurden, auf Firmenkosten. Der klinische Bühnenraum (Johannes Leiacker) zeigt eine Lounge mit Säulen, Bar und weißen Sofas, der Mann als Managertyp kommt darin gleich massenhaft vor, trägt Smoking und lässt alsbald alle Hemmungen und Hüllen fallen. Während draußen alles deprimierend ist: Dicker Regen prasselt an die Fensterscheiben.

Geschichten aus der Wirklichkeit? Eine akute Testosteronspiegel-Bestimmung? Das Personal säuft, fleddert Pornoheftchen und rauft. Und spätestens im zweiten Akt, wenn die »Miezen« kommen und ein kleines Theaterportal aus dem Schnürboden herabschwebt, artet das Ganze in die üblichen zirzensischen Leibesübungen aus. Abwechselnd rekeln sich Stubenmädchen, Nonne und Domina an der Puffstange, goldpuderbestäubte Callboys kreisen mit den Hüften, anal, oral, alles egal, und am Ende, nach einer handwerklich sauber durchchoreografierten Massenvergewaltigung, wird eine der Frauen an den Haaren von der Szene geschleift. Quod erat demonstrandum?

Das Stück, dem Konwitschny und Leiacker so viel Kunstdrastik angedeihen lassen, ist Leoš Janáčeks letztes Musiktheater Aus einem Totenhaus nach Dostojewskij. Wobei die Sträflingsklamotten, die sich die Kerle kichernd überstreifen, wenn es ans Peepshow-Gucken geht, ans Spiel im Spiel, auch schon der einzige halbwegs konkrete Bezug zum Originaltext sind. Dieser beschreibt ein russisches Straflager, Dostojewskij selbst war Insasse eines solchen.

Janáček destilliert daraus 1926 ein wundersam inkoheräntes, sämtlichen Gesetzen der klassischen Dramaturgie widersprechendes, roh montiertes eigenes Libretto – und komponiert eine Musik, die aller Folklore, allem Volkstonartigen abschwört, indem sie nichts anderes als dieses (respektive die Sehnsucht danach) beschwört: mal fratzenhaft verzerrt, mal liedhaft beseelt, ausgesprochen wenig mitteilsam in der Diktion. Eine Musik der Allusionen und Zitate, der vibrierenden Farben und melancholischen Einsilbigkeiten. Eine Musik, die an Saiten im eigenen Inneren rührt, an die man ungern rühren lässt.

Konwitschnys Theater erreicht die Menschen nicht

Ingo Metzmacher am Pult des Zürcher Opernorchesters besitzt eine enorme Affinität zu diesem Timbre und zur episch-aufgeklärten Haltung des alten Janáček in Opernfragen. Er liebt diese Partitur, das spürt man. Die feine Feile ist seine Sache trotzdem nicht. An etlichen Soli und Bläsereinsätzen wäre noch zu putzen und zu polieren gewesen. Selten hat man das Gefühl, dass die Klangbalance allen Schrägheiten zum Trotz tatsächlich stimmt – und überhaupt: Muss es so laut sein, so dermaßen scheppern und krachen, dass die Sänger aus dem Brüllen schier nicht mehr herauskommen? Pavol Remenár als Gorjantschikow, der junge Ilker Arcayürek als Aljeja und Matjaz Robavs als Schischkow machen das Beste daraus.

Protagonisten, eine Handlung kennt die Partitur nicht, dafür vier große Erzählungen und Rekapitulationen. Mit Guantánamo oder einem Terrorcamp von al-Qaida wäre das szenisch gewiss nicht zu lösen gewesen. Die Behauptung aber, die Konwitschny im Gegenzug aufstellt, wir alle seien Gefangene, Entfremdete, Opfer des Systems, sie mutet nicht minder platt und wohlfeil an, ja in ihrer Naivität vielleicht sogar noch zynischer. Eingekerkert zu sein an Leib und Geist und Leben, ausgeliefert brutaler Willkür und Gesetzlosigkeit, stellt eine andere existenzielle Erfahrung dar, als sich gesellschaftlich durchsetzen zu müssen, mit welch scheußlichen Mitteln auch immer. Die Menschen jedenfalls, die der Zuschauer zur Orchestereinleitung in einer Projektion über den Zürcher Bellevueplatz eilen sieht, zum nächsten Termin oder der verpassten Trambahn hinterher, dürften in der Mehrzahl keine Ahnung haben von körperlicher oder sexueller Gewalt. Das macht einen Unterschied.

Nun ist das Musiktheater bestenfalls zwar eine moralische, niemals aber eine naturalistische Anstalt. Um dies zu untermauern, inszeniert der Brecht-Schüler Konwitschny einige seiner beliebten Guckkasten-Brüche: ein Ehepaar aus der ersten Reihe, das lauthals protestiert und die Flucht ergreift; der Chor, der zu den Parketttüren herein singen darf; ein Betrunkener, der im Saal herumrennt und zu Skuratows Luisa-Litanei (Peter Straka) im dritten Akt permanent »Er lügt! Er lügt!« schreit. Wir da oben, ihr hier unten? Es fällt schwer, dieser Aufforderung zur Empörung und politischen Einmischung Glauben zu schenken. Und zwar nicht weil Abgebrühtheit grassiert, sondern weil das Theater die Menschen so nicht mehr erreicht. Es jammert und klagt – und bleibt jede Antwort, jede Alternative schuldig. Selbst einstigen Dioskuren-Paaren wie Konwitschny und Metzmacher gelingt hier erschreckend wenig Dringliches oder gar Aufrüttelndes.

Luisa ist eine jener Frauen, denen bei Janáček dreifach Unrecht geschieht. Zum einen ist das Totenhaus ein reines Männerstück, zum zweiten werden ihnen selbst erzählungshalber mindestens die Kehlen aufgeschlitzt, und zum dritten erfindet Konwitschny im dritten Akt ein ebenso zwiespältiges wie verräterisches Bild fürs männliche Liebeswollen. Mit einem Mal fährt aus der Unterbühne eine Matrjoschka empor, die, wie es ihre Art ist, lauter kleine Matrjoschkas gebiert. Das Licht gefriert, Schneeflocken fallen, und die Gefangenen geraten in Trance, hätscheln, streicheln, liebkosen die Püppchen mit aller Hingabe. Die Frau als Souvenirartikel, als Mütterchen Frost in mörderischer Zeit – da waren wir schon einmal weiter.