Im Lazarett der Gralsritter

Herbert Büttiker, Der Landbote (28.06.2011)

Parsifal, 26.06.2011, Zürich

Ein «Bühnenweihfestspiel» ist Richard Wagners «Parsifal» in der Neuinszenierung des Opernhauses für die Zürcher Festspiele nicht, eher eine Lektion zur Wirkungsgeschichte, auf der Bühne expressiv gestaltet und intensiv ausmusiziert.

In den ersten beiden Akten ging Parsifal barfuss, durch wucherndes Grün, über Strassenpflaster, jetzt, im dritten, trägt er Marschschuhe, dann Stiefel, und in der vollen Montur des Offiziers stellt er sich zuletzt zur Huldigung hin: So wird der Bursche aus den deutschen Wäldern als Retter der Gralsgemeinschaft gefeiert – das Opernhaus macht deutlich, dass Parsifals Erlösungstat in der Nachfolge Christi faschistoiden Rettungsfantasien und Heilserwartungen entspricht.

Das Regiekonzept könnte verfänglich sein. Zwar gilt die Gloriole der finalen Opernpracht mit Stimmen von oben einem Helden, dem man die Gefolgschaft lieber verweigert, aber klar stellt sich doch auch der Jubel ein. Denn Applaus verdient hat dieser Parsifal dann doch, der dank Stuart Skelton grossartig, baritonal-urwüchsig und tenoral glänzend zugleich, bei Stimme war, und Applaus provozierte die Aufführung insgesamt: mit einem expressiv bis an die Grenzen agierenden Ensemble, zu dem Yvonne Naef, Thomas Hampson, Matti Salminen und Egils Silins gehören und ein imponierendes Grossaufgebot von Orchester, Chören und Statisterie dazu. Am Pult stand Daniele Gatti, der in breiten Tempi, aber substanzvollem, nie aufgebläht wirkendem Orchesterklang die Musik ausdeutete, dabei mehr auf puristische Schönheit, als auf mystische Verschleierung aus war und dem Finale allen Glanz verlieh.

Für welche Welt?

Die Mischung aus Jubel und Irritation nach dem Schlussakkord war gewiss im Sinne des Regisseurs Claus Guth, auch wenn sie von eindeutigen Buhs durchsetzt war, denn wie anders als kritisch sollte dieses zwischen musikalischer Grossartigkeit und ideeller Fragwürdigkeit schwankende Werk heute auf die Bühne gebracht werden? Gar nicht? Gälte Wagners damalige Optik, gäbe es die Aufführung in Zürich tatsächlich nicht. Zum einen wollte er das Werk nur im Festspielhaus in Bayreuth aufgeführt wissen, zum anderen gibt es von ihm Sätze wie diesen (an König Ludwig): «Diese Welt, in der wir leben, braucht meinen Parsifal nicht! Was soll jetzt dieses christlichste aller Kunstwerke in einer Welt, welche in Feigheit vor den Juden vergeht.»

In welche Welt hinein «Parsifal» wirkte und was er vielleicht bewirkte, wird in vielen jüngeren Inszenierungen mitgedacht, auch in der neuen Koproduktion der Opernhäuser von Barcelona und Zürich. Deren Partnerschaft erinnert daran, dass in Zürich am 13. April und in Barcelona am 31. Dezember 1913 die ersten legalen Aufführungen des Werks ausserhalb Bayreuths stattfanden. Vom damals einsetzenden «Parsifal»-Boom, zu Beginn des Ersten Weltkriegs, geht Claus Guths Inszenierung aus.

Schauplatz sind unterschiedliche Raumsituationen mit Treppen und Galerien in einer maroden Villa, die als Lazarett dient. Christian Schmidt zeigt einen ingeniösen, stimmungsvollen Raumkomplex und verwandelt mit Hilfe der Drehbühne die sich dehnende Zeit von Wagners Musik in Raum. Die Regie nutzt ihn für weite Gänge und eine starke Präsenz der Figuren in der morbiden Architektur. Zwei Gralsritter in weissem Arztkittel und Krankenschwestern kümmern sich um die Versehrten. Gurnemanz ist ihr väterlicher Fürsorger und Zuchtmeister – eine zwielichtige Rolle, die Matti Salminen mit viel Resonanz für die Mischung aus Biederkeit und autoritärem Gehabe ausstattet. Natürlich bewährt sich seine Statur, wenn sich die mediokre Figur – mit dem Bischofskreuz auf der Brust – zum Steigbügelhalter des neuen Führers mausert.

Die Wunde

Auch der schwer verletzte Gralshüter Amfortas gehört hier zu den Patienten. Die Assoziation der Wunde mit sündiger Sexualität will sich hier nicht so recht einstellen. Thomas Hampson, der blutende Schmerzensmann, scheint mit seinen markerschütternden Erbarmens- rufen eher nach dem Chirurgen als dem Psychiater oder religiösen Heilsstifter zu verlangen. Die neurotische Geschlechterbeziehung, die in «Parisfal» zementiert wird, hat die Fantasie der Regie offenbar weniger bewegt als die Zeitgeschichte, die auch per Video ins Bühnenbild projiziert wird. Für die Klingsor-Welt und die aufreizenden Blumenmädchen erweist sich die Einheitsbühne als Korsett: Der mondäne Schurke, den Egils Silins effektvoll verkörpert, haust spartanisch, und über eine kleine Provinzparty kommt die Darstellung der Goldenen Zwanziger nicht hinaus. Aber die Begegnung von Kundry und Parsifal erhält immerhin durch stimmliche und darstellerische Hochform alle Brisanz. Yvonne Naef wie Stuart Skelton geben hier alles (Yvonne Naef in überforcierten Spitzen auch zu viel), und gestalten impulsiv und nuanciert zugleich.

Die Taufe und Erlösung der einzigen Protagonistin der Oper – eine Doppelrolle als Hure und unterwürfige Dienerin – durch den keuschen Parsifal ist einer der dunklen Punkte von Wagners tönender Weltanschauung. Statt «entseelt zu Boden zu sinken», durfte sich Kundry in der letzten Zürcher Inszenierung (1996/97) unter die Gralsritter mischen, ein Platz, den Wagner für die Frau im Hinblick auf die «Regeneration» der Welt nicht vorgesehen hatte. Jetzt sehen wir, während die Gralsritter zusammen mit himmlischen Sopranstimmen die Losung «Erlösung dem Erlöser» intonieren, Kundry mit dem Koffer in der Hand auf dem Weg in die Emigration, ein starkes Bild, wogegen der szenische Rahmen – Bruderzwist Klingsor und Amfortas als Söhne Titurels – allzu sehr blosses Aperçu bleibt.