Der reine Tor wird zum Diktator

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (28.06.2011)

Parsifal, 26.06.2011, Zürich

Claus Guth und Daniele Gatti bescheren dem Opernhaus Zürich einen ungewöhnlichen Wagner-«Parsifal»

Manche Programmhefte lesen sich vor einer Premiere wie Kochrezepte. Im Zürcher Begleitbüchlein zum neuen Wagner-«Parsifal» liest man aus der Feder von Chefdramaturgin Ronny Dietrich, der Regisseur Claus Guth wolle die Handlung dieser letzten, von einer Aura des Mystisch-Geheimnisvollen umgebenen Wagner-Oper «erden», indem er den ersten Akt 1914, den zweiten in den Jahren nach dem Weltkrieg und den dritten in den Jahren vor der Machtergreifung Hitlers spielen lasse.

Bedürftige Kreaturen

Wir erwarten streikende Arbeiterhorden, Pogromstimmung, den Hitlergruss. Aber nichts ist davon zu sehen, allenfalls die filmische Andeutung, dass es mit der sozialen Perspektive der Menschenmassen nicht zum Besten bestellt ist. Und am Ende ein zum König erkorener Parsifal, der in einer austauschbaren Militäruniform steckt, sekundiert vom Pater Gurnemanz als Stellvertreter der diktaturenfreundlichen Kirche. Claus Guth ist seinem Rezept in der Grundtendenz treu geblieben, hat seine Inszenierung aber mit so viel Weichmacher versehen, dass von der konkreten Erdung nicht viel übrig geblieben ist.

Hinweggefegt ist auch die mystisch-katholische Aura des Stücks. Der erste Aufzug spielt in einem Sanatorium, die Gralsritter sind bemitleidenswerte Kreaturen, die dringend der Therapie bedürfen. Die Bilder von zuckenden und zappelnden Irren, denen von Weisskitteln Beruhigungsspritzen verpasst werden, hat man schon in mancher Operninszenierung gesehen – auch ein Claus Guth kocht eben nur mit Regietheater-Wasser.

Alle Szenen spielen in einem dem Haus Wahnfried nachempfundenen Palazzo, in den selbst die Karfreitags-Aue integriert ist (Ausstattung Christian Schmidt). Dank Drehbühne bieten die Räume immer wieder neue Ansichten.

Übertönte Sänger

Ein Verirrter ist auch der nicht sterben könnende König Amfortas, der sich mühsam die steile Treppe von seinem Gralsgemach hinunterschleppt und sich am Gralskelch festklammert, den er fast nicht mehr tragen kann. Am Ende wird er sich mit dem Zauberer Klingsor verbünden, beide funktionslos geworden wie die Naturheilerin Kundry, die ihr Köfferchen packt und das Reich des Emporkömmlings Parsifal schleunigst verlässt. So hat eine Inszenierung, die sich zu Beginn noch eher zäh dahinschleppt und nicht aus den stereotypen Bildern herausfinden will, doch noch eine überraschende Schlusspointe.

Zäh und unelegant nimmt sich die musikalische Leitung aus. Chefdirigent Daniele Gatti dehnt den ersten Aufzug auf lange 107 Minuten und musiziert mit dem Opernhaus-Orchester gern so laut, dass man mitunter Mühe hat, differenziert und wortdeutlich gestaltende Sänger wie den noblen Gurnemanz von Matti Salminen zu verstehen. Gewiss, die perfekte Bayreuther Akustik darf man nicht überall erwarten, aber was einem aus dem Zürcher Orchestergraben entgegenschallt, ist grobschlächtig.

Revue der Zwanzigerjahre

Dabei kann sich die Produktion auf Sängerdarsteller erster Güte stützen. Stuart Skelton ist wie in der englischsprachigen Londoner Produktion von Nikolaus Lehnhoff (BaZ vom 19. Februar) ein als kindlich-reiner Tor gezeichneter Titelheld, der sehr wohl über heldentenorale Kräfte verfügt, diese aber gut dosiert einsetzt. Thomas Hampson gibt den Schmerzensmann Amfortas mit viel baritonaler Kunstfertigkeit, zu welcher auch das glissandierende Suchen der Töne im Raum gehört.

Egils Silins ist ein elegant im Frack auftretender, stimmlich klar zeichnender Klingsor, und Yvonne Naef wird dem Ruf der Kundry als schrillste Schreckschraube aller Wagner-Frauen vollauf gerecht. Sie scheint ebenso wie die Blumenmädchen im zweiten Akt mit ihren neckischen Federbüschen einer Grossstadt-Revue der Zwanzigerjahre entsprungen zu sein. Gackernde Hühner, die von der heraufziehenden Barbarei nichts merken.