Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (28.06.2011)
Das Zürcher Opernhaus hat einen neuen «Parsifal». Der Titelheld kommt in Claus Guths kluger Inszenierung gar nicht gut weg.
Titurel ist alt und arthritisch, Amfortas hat eine Wunde, die nicht heilen will, und die übrigen Gralsritter sind auch nicht wirklich fit. Ihre Burg ist ein Lazarett, das Blut aus dem Kelch des Grals wird ihnen als tägliche Medizin gereicht – nachdem sie die Bitte um Labung vom Textblatt gelesen haben. Denn so jämmerlich sie in dieser Inszenierung von Claus Guth physisch beieinander sind: Um die spirituelle Gesundheit dieser Gesellschaft ist es nicht besser bestellt.
Es ist eine Gesellschaft von Eingeweihten, genau wie auch die ersten Zuschauer von Wagners «Parsifal» Eingeweihte waren. Nach dem Willen des Meisters durfte sein letztes Werk jahrelang nur in Bayreuth gespielt werden, der Rest der Welt bekam es erst ab 1913 legal zu sehen und zu hören – zuerst in Zürich und in Barcelona, wo Guths Inszenierung in anderer Besetzung kürzlich bereits zu sehen war. Dass der Regisseur die Geschichte in der Zeit des Ersten Weltkriegs spielen lässt, verweist damit nicht zwingend, aber sinnig auf die Werkgeschichte. Und überhaupt überblenden sich während des ganzen Abends immer wieder die Gralsgesetze und der Wagner-Kult, die Handlung des Stücks und der Umgang mit seinem Komponisten, der in der Realität ebenso als Erlöser gefeiert wurde wie Parsifal auf der Bühne.
Die Gefahr ist weiblich
Da passt es, dass Opernhaus-Chefdirigent Daniele Gatti im Orchestergraben steht. Sein Vorgänger Franz Welser-Möst hat jeweils die erzählerische Kraft von Wagners Musik ins Zentrum gerückt, ihre kammermusikalische Intimität, ihre emotionale Klarheit. Bei Gatti schlägt das Erzählen nun immer wieder ins Raunen um, der Klang ist gross oder zieht sich plötzlich zurück ins mysteriöse Pianissimo, die Tempi sind in den Szenen auf der Gralsburg auffallend langsam (aber nur selten zäh). Und schon das Vorspiel klingt wie eine Gehirnwäsche: Danach wird man das Gralsmotiv nie mehr vergessen, noch die kleinste Andeutung daran wird man sofort erkennen. Der Weg ist gewiesen, man muss ihm nur folgen.
Es ist einem nicht so recht wohl dabei. So befremdet Parsifal, der «reine Tor», das seltsame Tun der Gralsritter beobachtet, so befremdet sieht und hört man als Zuschauerin im Jahr 2011 dieses Bühnenweihfestspiel. Was für ein Weltbild vermittelt es denn? Und auch: Was für ein Frauenbild? Amfortas’ Wunde ist ja die Strafe dafür, dass er Kundry nicht widerstehen konnte. Jener Kundry, die verflucht durch Zeit und Raum gehetzt wird, die verführen muss, weil sie nicht anders kann, und jedem Verderben bringt, der sich auf sie einlässt.
In diesem Sinn ist der «Parsifal» durchaus verwandt mit dem «Tannhäuser», der kürzlich im Zürcher Opernhaus ebenfalls Premiere hatte. Auch dort geht es um eine Männergemeinschaft und ihren Widerstand gegen die weibliche Gefahr, es wird das Hohelied auf die keusche Liebe gesungen und bestraft, wer der Venus verfällt. Aber im Unterschied zu Harry Kupfer, der diese Sicht der Dinge in seinem reichlich platten «Tannhäuser» übernommen hat, geht nun Claus Guth zum Abschluss seiner in verschiedenen Städten erarbeiteten Wagner-Totalen auf Distanz dazu.
Wie sehr, das zeigt sich erst im Laufe des Abends. Zu Beginn wirkt alles noch fast klassisch. Der Kelch des Grals, der getötete Schwan, der blutige Verband des Amfortas – es ist alles da. Die Burg respektive das Lazarett, das wie (allzu) oft bei Guth und seinem Ausstatter Christian Schmidt auf einer Drehbühne steht, ist ein lauschiges Landhaus mit Bogenfenstern, dekorativer Treppe und einem charmant abgeblätterten Verputz. Und Kundry streicht sich die wilden Strähnen aus dem Gesicht, wie sie es schon tausendfach getan hat.
Schuhe für Parsifal
Allerdings sieht und hört man Kundry selten so existenziell erschöpft wie hier. Wie Yvonne Naef sich quält mit dem Erwachen, wie sie ihren dunklen Mezzosopran aus der Lethargie holt und zum Leuchten bringt, wie ihr Körper dabei seine Bleischwere verliert: Das ist von einer Präzision, die nichts mit dem Nachstellen von Traditionen zu tun hat. Auch der Gurnemanz von Matti Salminen ist schärfer, als man es von einem väterlichen Lazarett-Priester erwarten könnte. Und Thomas Hampson zeigt wieder einmal, dass baritonaler Schönklang und dramatische Gestaltung sich nicht ausschliessen müssen: Sein Amfortas leidet nicht nur an einer seltsamen Wunde, sondern an Selbstekel, Weltekel, an einem rabenschwarzen Pessimismus, gegen den kein Gral hilft.
Aber da ist ja Parsifal, der Erwählte, der ihn ersetzen soll. Barfuss und im üblichen Naturburschenhemd tritt der Australier Stuart Skelton auf: ein Strahletenor mit traditioneller Wagner-Postur, der keine Mühe hat, gegen Gattis Orchester anzukommen, der aber auch die leisen Töne beherrscht und wie die übrigen Protagonisten auf eine sehr deutliche Sprache setzt (für einmal wären die deutschen Übertitel tatsächlich fast überflüssig gewesen). Ein bisschen plump wirkt er in der Blumenmädchenszene, wie es sich gehört und wie es neben diesen überaus zarten und glockenhell singenden Blumenmädchen erst recht zur Geltung kommt.
Da ist die Inszenierung in den ebenso glamourösen wie dekadenten 1920er-Jahren angekommen, und man ahnt schon, wie es weitergeht. Und tatsächlich, im dritten Aufzug ist Parsifal, der ehemalige Tor, nicht nur zur Erkenntnis seiner Mission gekommen, sondern auch zu Schuhen. Amfortas wird geheilt und aus dem Palast geschickt, wo er den schon früher verstossenen und mit Egils Silins ebenfalls stark besetzten Klingsor trifft – dass Guth die beiden als Brüder zeigt, ist stimmig, aber nicht entscheidend. Entscheidend ist ihr gemeinsames Wissen darum, wohin diese Gralswelt steuert: Dort steht Parsifal – inzwischen in Stiefeln und schmucker Uniform – auf der Empore, neben sich den Minister Gurnemanz und unter sich die Menge der Gralsritter, die dem neuen Erlöser zujubeln.
Musik als Propaganda
Und die Musik? Was geschieht mit der sanften, versöhnlichen Musik, die Gatti, das grandiose Opernorchester und der gerade in den ätherischen Momenten überzeugende Chor so süffig und sinnlich darbieten? Sie wird zur Maske, zur reinen Propaganda. Das ist nicht Guths Erfindung, schon Adorno hat darauf hingewiesen, dass man «die Rettung am Ende so wenig glaubt wie manchmal im Märchen». Aber die Wirkung ist unheimlich an diesem Abend. Weil man selten so deutlich und dabei so ohne optisches Geschrei vorgeführt bekommt, dass dieser «Parsifal» bei allen künstlerischen und musikhistorischen Meriten eben immer noch ein problematisches Stück ist, das eine menschenverachtende Ideologie vermittelt.
Kundry packt zuletzt ihre Koffer und geht. Die Oper schreibt das nicht vor. Aber die Geschichte.
Schon das Vorspiel klingt wie eine Gehirnwäsche. Man wird das Gralsmotiv nie mehr vergessen.