Wolfgang Bager, Südkurier (28.06.2011)
Regisseur Claus Guth leuchtet in Zürich Wagners „Parsifal“ psychologisch aus. Und Dirigent Daniele Gatti assistiert mit perfekter Musiktherapie.
Der Glaube versetzt Berge. Vor allem dort, wo die Jammertäler am tiefsten sind. Je größer die Not, desto dringender das Bedürfnis nach Erlösung. Wie die Erlösung oder der Erlöser aussehen mag, davon haben die Verzweifelten oft keine – oder nur wolkig-nebulöse Vorstellungen. Ob die tatsächliche oder vermeintliche Erlösung nun im persönlichen, religiösen oder politischen Bereich stattfindet, wird meist gar nicht mehr unterschieden. Ein Erlöser muss einfach her. Nicht umsonst spielen Verfolgungs- und Erlösungsfantasien sowie deren Behandlung in der Tiefenpsychologie eine wichtige Rolle. Und genau diesen Ansatz wählt Regisseur Claus Guth bei seiner Inszenierung von Richard Wagners Parsifal am Zürcher Opernhaus.
Und wie Psychologen das so machen, erforscht Guth zunächst die Kindheit des Patienten. Noch während der Ouvertüre sehen wir einen Familienzwist. Klingsor, der eitle, herrschsüchtige, von Vater Titurel stets Benachteiligte und Amfortas, der sensible Erbe und Hüter des heiligen Grals, müssen wohl feindliche Brüder sein. Erregt springt Klingsor von der Familientafel auf, ein Stuhl fällt um, der Haussegen ist zerstört, das Orchester im Graben macht erste Andeutungen.
In diesen Rahmen stellt Guth die so komplexe, kaum zu durchdringende Parsifal-Handlung. Hier wird der kranke Amfortas gepflegt, Klingsor hat ihm eine nicht heilende Wunde zugefügt mit dem Speer vom Heiligen Gral. Heilung und Erlösung von den Schmerzen kann nur „ein durch Mitleid wissender reiner Tor“ mit eben jenem Speer erbringen. Bis dahin ist Amfortas auf die Zuwendung Kundrys angewiesen, die mit linderndem Balsam versucht, Amfortas' Verletzung und ihr eigenes Gewissen zu salben, denn es war ihre erotische Annäherung, die Amfortas unachtsam werden ließ und somit Klingsor die Möglichkeit gab, den Speer an sich zu reißen. Wie gut, dass gerade jetzt ein tumber Knabe auftaucht, von dem nur Kundry weiß, dass er von seiner Mutter Parsifal genannt wurde. Er muss der Erlöser sein, nur er kann alle Wunden heilen und schließlich den Gral enthüllen, auf dessen magische Kraft schon lange alle warten und hoffen. Doch bis dahin wird noch ein qualvoller (Kreuz-)Weg zurückzulegen sein.
Wer Parsifal inszeniert, lässt sich auf vieles ein. Auf ein „Bühnenweihefestspiel“, das vermessen Kunst und Religion vermengt, sich sogar zur Kunstreligion erhebt, mit seinem Karfreitagsthema, seinem formalen Aufbau von Wehklage, Taufe, Abendmahl, Fußwaschung und Passion irgendwo zwischen Liturgie, Blasphemie oder mystischem Erlösungskitsch angesiedelt werden kann. Das alles packt die Regie in eine alte, italienisch anmutende Villa mit vielen Zimmern, Stockwerken, Terrassen und Treppen. Eine Drehbühne (Christian Schmidt) gestattet Zugang und Einblick von allen Seiten. Guth nutzt dieses Haus multifunktional als Gralshort, Zauberschloss, Lustgarten, Kriegslazarett, vielleicht sogar als Irrenhaus. Das Gebäude gleicht einem Körper, dessen Innenleben Schicht für Schicht freigelegt und analysiert wird. Die Abgeschlossenheit, das Fehlen von Außenwelt, die nur in Form von Videoprojektionen stattfindet, verstärkt die Atmosphäre der Beklemmung.
Wie eine Folie legt Guth dann noch den Faktor Zeit in gleich zweifacher Dimension über dieses Geisterhaus. Die drei Akte der Oper entsprechen den Entwicklungsstadien Parsifals vom naiven Knaben über den erkennenden Heranwachsenden bis hinauf zum kommenden Herrscher. Historisch schlüssig wird das auf die Zeit vom Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg projiziert. Niederlage, Depression, Heilserwartung und schließlich der „Heilsbringer“. Im Gegensatz zu Stefan Herheim, der für seine Parsifal-Inszenierung bei den Bayreuther Festspielen einen ähnlichen zeithistorischen Ansatz gewählt hatte, verzichtet Guth in Zürich auf die spektakuläre Aktualisierung. Seine Zeitbezüge sind nur in den Kostümen und den sehr dezent eingesetzten Video-Projektionen angedeutet. Ansonsten herrscht handlungsarme Strenge, nicht immer ohne die eine oder andere quälende Länge.
Und diesem Konzept passt sich das Zürcher Opernorchester unter der Leitung von Daniele Gatti kongenial an. Wie schon in Bayreuth, geht Gatti die Partitur extrem langsam an. Das passt, denn Guths ruhende und nur gemächlich fließende Bilder vertragen kein schnelles Dirigat. Und so kann das Orchester alle nur erdenklichen Farben und Nuancen in Wagners Musik ausloten und auskosten. Das Wechselspiel von breit und zart, von laut und leise, stellt sich immer ganz wunderbar in den Dienst von Handlung und Inszenierung.
Ebenfalls ein Glücksfall ist die Leistungsdichte bei den Sängern. Matti Salminen, der als Gurnemanz die anstrengende Rolle des Erzählers übernimmt, ist mit seinem sonoren Bass auch in langen Passagen eine solide Bank. Thomas Hampson (Amfortas) und Egils Silins (Klingsor) bringen die beiden ungleichen Brüder ebenfalls stimmlich sicher und textverständlich auf die Bühne. Yvonne Naef überrascht als Kundry mit für Wagner eher untypischem, lyrisch-warmem Sopran von großer Strahlkraft, der nur gegen Ende etwas angestrengt schrill wirkt.
Fast lenkt so viel musikalische Perfektion etwas ab von dem, was dieser Inszenierung wichtig ist. Am Ende wird der Speer dem Gral wieder eingefügt, und im grellen Scheinwerferlicht steht der Erlöser. Parsifal. Er trägt die Uniform eines Diktators, Kundry packt die Koffer. Erschreckend und wohltuend zugleich, dass Guth Wagners „Bühnenweihefestspiel“ so enden lässt. Viel Beifall für das ganze Team, wenige Buhs für den Dirigenten, mutmaßlich für das gedrosselte Tempo und einige Buhs für die Regie, die aber inzwischen schon fester Bestandteil jeder engagierten Wagner-Rezeption sind.