Parsifal im Sanatorium und als Führer

Heinz W. Koch, Badische Zeitung (29.06.2009)

Parsifal, 26.06.2011, Zürich

Richard Wagner auf drei Ebenen: Daniele Gatti dirigiert Claus Guths Inszenierung zu den Zürcher Festspielen im Opernhaus.

"Parsifal" mal drei. Das ist die griffigste Formel, auf die Claus Guths jüngste Wagner-Inszenierung zu bringen ist. Im Februar hatte sie in Barcelona Premiere. Nun ist die Koproduktion bei den Zürcher Festspielen zu überprüfen – als einstweilen letzte von sieben Arbeiten Guths am Opernhaus, dem ein Intendantenwechsel bevorsteht. Wie schon in seinem vielberedeten Zürcher "Tristan" hat der Regisseur sich von seinem Dauerpartner Christian Schmidt eine – immerzu sich drehende, immer neue Einblicke gestattende – massive, wann auch schon bröckelnde Gründerzeitvilla bauen lassen, wie sie an den Hängen der Stadt hundertfach zu finden sind und deren Innenhofgrün sogar die Karfreitagsaue hergibt.

Das Domizil könnte auch das Personal von Thomas Manns "Zauberberg"-Sanatorium aufnehmen. Wagners darbende Gralsritterschaft – das ist bei Guth ein jammervoller Trupp Versehrter aus dem Krieg 1870/71: zusammengeschossene und -geflickte arme Teufel mit Krücken und Blindenstöcken, ein wild zuckender Mann will die Wand hoch. Bei der ersten großen Verwandlungsmusik hocken sie andächtig vorm Grammophon seligen Angedenkens – Achtung: Manns "Fülle des Wohllauts". Gurnemanz ist der Lazarett-Pfarrer.

Hier hinein gerät – "Parsifal"-Strang Nummer eins – der naive Titelheld, nachdem er frevelnd den Schwan erlegte. Anfangs war er barfüßig durch eine bühnenhohe und -breite Filmwiese gewandert, die aussieht, als habe der große alte Fotorealist Franz Gertsch sie für seine derzeitige Zürcher Kunsthausschau zu malen vergessen (Video: Andi A. Müller). In den folgenden Akten kommt Schuhwerk hinzu, bis der junge Mann in schweren Stiefeln drauflos stapft. Das ist der Bildungsroman im "Parsifal". Die Geschichte einer Reifung, Bewusstwerdung, eines Heranwachsens zur Erlöser-, zur Führerfigur. Zu jener Gestalt, der – "Parsifal" II – die darniederliegende Ritterschaft, sprich: die orientierungslose Zwischenkriegsgesellschaft am Ende auf Knien entgegenfiebert. Nur – und hier kommt der einzige gravierende Einwand: Genau dieser Hitler/Mussolini/Franco-Verschnitt ist Stuart Skelton, ein pausbäckiger Naturbursche, nicht – wie er dem sich mühevoll treppauf schleppenden Gralskönig Amfortas nachsinnt und etwas zu ahnen beginnt, wie er, von der Erkenntnis seiner Schuld geschüttelt, von tätiger Reue erfasst wird, inbrünstig den "höchsten Schmerzenstag" besingt. Zur Machtergreifung taugt er trotz seiner Uniform schwerlich. Dennoch schnappt Kundry sich ob der für sie fatalen politischen Entwicklung ihren Koffer: nichts wie weg von hier! Kundry, die ewige Jüdin? Möglich. Und "Parsifal" zum Dritten: Das ist das Familiendrama bei Seniorkönig Titurel, dessen beide (!) Söhne, der bevorzugte Amtsnachfolger Amfortas und der zurückgesetzte Klingsor, sich am Ende überm Sarg des Vaters wieder anzunähern scheinen. Klingsor im Frack des Zirkusdirektors gab den bösen Zauberer, der den guten Ritterbruder dank seiner erotischen Waffe Kundry zu Fall und qualvollem Siechtum bringt. Im ersten Aufzug war es so, als trinke Titurel bei der – hier eigenhändigen – Gralsenthüllung das Blut des Amfortas.

Man weiß es: Guth zählt zu jenen Szenikern, die die Deutungsebenen der Werke übereinander zu schichten pflegen, die – ähnlich, wenn auch nicht so wuchernd komplex wie Stefan Herheim etwa auch beim Bayreuther "Parsifal" 2008 – im Grunde mehrere Inszenierungen in einer verknüpfen. Dass das alles nicht bloße Behauptung bleibt, macht den Theaterfaktor dieses grandios gedachten und in der Praxis auch "aufgehenden" Abends aus. Denn: Wenn die Qualität der Umsetzung ein Konzept zu legitimieren versteht, dann ist es bei Guths "Parsifal"-Lesart der Fall. Das ist vor allem spannendstes Musiktheater, berstend von Erzähllust und randvoll mit psychologischen Details. Außer den "Parsifal"-Strängen werden eine Fülle weiterer angetippt. Guth gerät ein Meisterstück sorgsamer Personenführung.

2008, bei Herheim in Bayreuth, diagnostizierten nicht wenige beim Dirigenten Daniele Gatti ein gewisses Desinteresse an der Szene. Auch wer den Zürcher Opernchef generell reserviert betrachtet, muss sich jetzt wohl korrigieren. Gatti dirigiert der Inszenierung entschieden zu. Er stützt die emotionalen Kulminationen und reizt die dynamische Spannweite bis zum Rand aus. Die dynamischen Reibungen brennen sich ein. Dabei ist er durchaus kein "moderner", kein analytischer Musiker. Er zielt auf einen rund ausgewogenen, auch mal etwas sämigen Mischklang. Und wenn’s dem Blumenmädchen-"Walzer" gilt, wirkt er bei feinsten Abstufungen ausgesprochen elegant. Wichtig auch: Er atmet mit den Sängern.

Geriete Yvonne Naefs’ Kundry, der man die mütterliche eher als die erotische Komponente glaubt, bei ihren Ausbrüchen nicht überdeutlich an Höhengrenzen, wäre auch dem Vokalpart die Bestnote zuzugestehen. Stuart Skelton ist ein Parsifal-Ideal: ein Heldentenor ohne Makel, der seine enorme Strahlkraft aus der lyrischen Feinzeichnung herleitet. Thomas Hampsons Bariton treibt Amfortas’ Leidensdruck ins Äußerste – eine überragende Leistung, hinter der sich Egils Silins’ klar artikulierender, machtvoller Klingsor aber keineswegs verstecken muss. Und dann der erste Sänger, der dieser Tage den Zürcher Festspielpreis erhält: Matti Salminen, vor fast 40 Jahren erstmals an der Zürcher Oper und auch als Mittsechziger ein Gurnemanz von nach wie vor überwältigender Bass-Autorität und mit Phrasierungsmomenten, die spürbar diesem Regie-Ansatz entspringen.