Muss Kundry ins KZ?

Klaus Kalchschmid, klassikinfo.de (29.06.2011)

Parsifal, 26.06.2011, Zürich

"Parsifal" unter Daniele Gatti, vieldeutig und vielschichtig inszeniert von Claus Guth in Zürich

"Erlösung dem Erlöser" - das kryptische, vieldeutige Wort des Chors am Ende von Richard Wagners "Bühnenweihfestspiel" deutet Claus Guth kühn: Parsifal, der im Lauf des Abends immer mehr soldatische Attribute verpasst bekam, steht nun in der ersten Etage der verwinkelten Räume der Burg Monsalvat in Uniform mit Schirmmütze im grellen Scheinwerferlicht, hinter ihm an der Wand: der mit Edelsteinen besetzte silberne (Grals-)Kelch, der eine Schale aus rotem Glas umschließt, samt Speer. Ausgehend von 1914 und den traumatisierten Kriegsversehrten in einer Heilanstalt à la Zauberberg, die den ersten Akt bestimmte, über eine Party-Gesellschaft der 20er Jahre (Zaubergarten des zweiten Akts) sind wir jetzt im Jahr 1933 angekommen.

Der anfangs im Video in slow motion barfuß über eine Wiese voller Grün und Blumen schwebende Knabe trägt nun Springerstiefel. Und Kundry? Verlässt sie - geheilt von Schizophrenie - mit braunem Koffer an der Rampe die Klinik oder landet sie im Konzentrationslager? Versöhnung findet einzig statt angesichts des Todes von Vater Titurel zwischen den verfeindeten Brüdern Amfortas und Klingsor, die nun auf einer Bank nebeneinander sitzen und einander zärtlich an der Schulter berühren. Schon während des Vorspiels sehen wir die drei an einer Tafel beim Essen. Schnell wird wortlos deutlich, wer der Liebling ist: Amfortas, während Klingsor wütend die Serviette auf den Tisch, das Weinglas auf den Boden und die Türe knallt.

Claus Guth holt den sonst unsichtbaren Titurel auf die Bühne, lässt ihn im Gehrock mit Zylinder fordernd mitagieren. Wie alle Figuren bewegt er sich ständig zwischen den drei Räumen der zum Lazarett umfunktionierten, heruntergekommenen Burg, wodurch statt der Schauplätze bei Wagner "am nördlichen Gebirge des gotischen Spaniens" und "auf dem Gebiete und in der Burg Monsalvat" sowie "an dessen Südabhange, dem arabischen Spanien zugewandt" (Klingsors Zauberschloss) deren viele entstehen (wie immer Bühne und Kostüme: Christian Schmidt). Aus Gralsrittern werden Ärzte, aus den Knappen Krankenschwestern, die Brüderschaft der Gralsritter sind Patienten, die im ersten Akt in ein goldglänzendes Grammophon wie einst in Thomas Manns "Zauberberg" hineinhorchen, bevor sie von an sie verteilten Noten zu singen beginnen.

Im letzten Akt - die Burg ist zusehens verfallen - sind aus ihnen Großbürger in Frack und Zyklinder geworden.
Durch den steten Fluss der Schauplätze isoliert Guth viele intime Szenen oder lässt sie ineinander übergehen. So kann Kundry - respektive ihr Double - im einen Raum noch Zigarette mit langem Mundstück rauchen und im anderen auf Parsifal treffen, hier noch unter ihrem Mantel liegen und Sekunden später auf einem Stuhl aufschreien, wenn Gurnemanz ihr diesen Mantel wegreißt. Parsifal muss beim Geschehen um Amfortas und das Abendmahl nicht eine halbe Stunde an der Rampe stehen, sondern geht mit den Protagonisten mit, beinahe schon "durch Mitleid wissend", aber noch ohne dies artikulieren zu können.

Der Australier Stuart Skelton kann nicht nur wunderbar jungheldisch singen, sondern ist - seiner Körperfülle zum Trotz - auch ein großartiger Schauspieler. Wie er den unbedarften Knaben im ersten Akt darstellt oder die Erschöpfung des nach jahrelangen Irrfahrten Zurückgekehrten, aber auch das sexuelle Erwachen im zweiten spielt - das ist höchst beeindruckend und überzeugend.
Nicht minder faszinierend, wie stimmgewaltig und konditionsstark, aber auch mit welch zarten Piani der mittlerweile 66-jährige Matti Salminen immer noch den Gurnemanz zu singen und darzustellen vermag. Leider stellt Thomas Hampson das Leidenspathos des Amfortas allzu expressionistisch aus, meistert aber faszinierend die Ausbrüche der Schluss-Szene. Egils Silins ist ein weniger dämonischer, als domestizierter Klingsor - passend zum Konzept Guths. Yvonne Naef besitzt zwar eine große Wagner-Stimme, aber ihre Kundry bringt den Zuhörer - wie schon 2007 auf der DVD der Zürcher Hollmann-Inszenierung - bei den Spitzentönen im zweiten Akt an die Schmerzgrenze. Ulrica mit ihrer exorbitanten Tiefe in Verdi "Ballo in maschera" UND Kundry kann man halt schwer gleichzeitig im Repertoire haben.

Daniele Gatti muss man erneut vor seinen Kritikern in Schutz nehmen. Denn so problematisch manche breit ausmusizierte Verzögerungen im ersten Akt sein mögen, die faszinierend gedacht sind, aber deren Spannung sich bei der Premiere (noch) nicht immer herstellte, um so größer ist der Zug, den der dritte Akt besaß. Alle Temporelationen und auch die Balance der Lautstärke stimmten. Das letzte Zwischenspiel vor der zweiten Gralszene aber darf, ja muss martialisch auftrumpfen, hier im übrigen dialektisch vorbereitet von den Projektionen, die das Salbadern des Gurnemanz von der Kreatur, die zum erlösten Menschen aufschaut beim Karfreitagszauber begleiten: Massen von Menschen, Soldaten, Zivilisten, Alte, Junge, Verletzte, Unversehrte, die in eine ungewisse Zukunft aufbrechen.