Oliver Schneider, DrehPunktKultur (30.06.2011)
Die erste Zürcher Festspielpremiere galt Wagners „Parsifal“ in wahrlich festspielwürdiger Besetzung. Die Inszenierung von Claus Guth war schon am Gran Teatro del Liceu Barcelona zu sehen, die Besetzung ist in Zürich komplett neu.
Die größte Überraschung spielt sich wohl im Orchestergraben ab, wo Chefdirigent Daniele Gatti das Orchester am Ende einer langen Saison mit 16 Premieren wahrlich nochmals zu einem Höhenflug anspornt und gleichzeitig die hervorragenden Solisten auf Händen trägt. Fast jedes Wort kann man an diesem Abend verstehen, weil Gatti das Orchester dynamisch bremst und die straffen Zügel nur in den orchestralen Passagen locker lässt. Dann allerdings richtig, so dass sich der abgedunkelte Klang warm entfalten kann. Sicher, wie in Bayreuth setzt Gatti auch in Zürich eher auf langsame Tempi. In Zürich ist es aber nur das Vorspiel zum ersten Aufzug, das auseinanderzufallen droht, denn in der Folge sind Gattis Tempi perfekt auf Claus Guths Geschwindigkeit der Inszenierung abgestimmt. Fast scheint es, als seien die letzten drei Bayreuther Sommer – ab 28. Juli wird Gatti die vierte Wiederaufnahme-Serie von Stefan Herheims Tour d’horizon durch die deutsche Geschichte dirigieren – nur das Aufwärmen für sein Zürcher Dirigat gewesen.
Dank Gattis Unterstützung aus dem Graben hatten es die Sänger etwas leichter als anderswo, obwohl sich diese Sängercrew wohl auch sonst mühelos durchgesetzt hätte. Der erste und der dritte Aufzug gehörten ganz Matti Salminen, der für die Rolle des Gurnemanz noch einmal seine gesamte langjährige Erfahrung einbringt. Salminen, der diesjährige Träger des Zürcher Festspielpreises, fasziniert noch immer mit klar fokussierter Linie sowie unnachgiebiger Kraft und besitzt eine Abgeklärtheit, die seine Interpretation zurzeit unerreicht macht.
Der Australier Stuart Skelton gibt einen glaubhaften Parsifal, der sich vom weltfremden Kaspar Hauser zum ersehnten militärischen Retter mausert und den er mit großem, tragkräftigem Heldentenor ausstattet. Bei Claus Guth bilden Titurel, Amfortas und Klingsor eine Familie: Amfortas und Klingsor sind Titurels Söhne, von denen der Vater allerdings den ersteren bevorzugt, was Klingsor mit seinem Rückzug aus der Gralswelt beantwortet. Thomas Hampson gibt intensiv und vokal reif erstmalig in Zürich den Amfortas. Allerdings zeigte sich bei der Premiere am Sonntag auch, dass ihn die wuchtigen Klagen an stimmliche Grenzen bringen. Klingsor ist der im Parlando sichere Egils Silins, Pavel Daniluk gab sein bemerkenswertes Debüt als Titurel.
So intensiv und reif Yvonne Naef die Kundry gestaltet, ganz glücklich wird man mit ihrer stimmlichen Leistung nicht. Zwar erscheint ihr klangsatter, gerundeter Mezzosopran in der Mittellage für die Partie ideal, doch in der Höhe muss sie kämpfen. Keine Wünsche lassen die von Jürg Hämmerli und Ernst Raffelsberger einstudierten Chöre offen, die zum Teil im Foyer des zweiten Rangs positioniert sind, wenn zum Beispiel der Gral im ersten Aufzug ähnlich einem Götzenbild enthüllt wird oder im dritten Aufzug die Gralsritter ihren Erlöser empfangen.
In Zürich fand die Inszenierung von Claus Guth im Bühnenbild von Christian Schmidt mehrheitlich Anklang. Die Gralsritter leben während des Ersten Weltkriegs in einem Lazarett oder Sanatorium für Kriegsversehrte. Gurnemanz ist der Anstaltsgeistliche. Im zweiten Aufzug verwandelt sich das heruntergekommene Gebäude auf der Drehbühne in ein Bordell in den zwanziger Jahren, bevor dann Videosequenzen die Hoffnungslosigkeit der Menschen in der Zwischenkriegszeit illustrieren und den Wunsch nach einer Erlöserfigur zu erklären versuchen. Für die Dahinsiechenden ist das ein gereifter Parsifal, der zur neuen Führer- und Heilsfigur geworden ist. Für Kundry ist im Lazarett-Sanatorium kein Platz mehr, so dass sie mit gepacktem Koffer geht.
Die familiäre Verbindung zwischen Titurel, Amfortas und Klingsor ist die zweite Handlungsebene, die in ein positives Ende mündet: Die beiden Brüder schliessen Frieden, weil für sie neben dem neuen Heilsbringer ebenfalls der Raum fehlt. Als dritten Handlungsstrang verfolgt Guth schliesslich Parsifals Entwicklung vom naiven Tor zum erwachsenen Retter, was neben der Personenführung durch Videoeinspielungen eines Laufenden – barfuss im Gras, auf Asphalt und am Schluss mit schweren Schuhen auf einem winterlichen Gehsteig – untermalt wird (Videodesign: Andi A. Müller).