Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (06.07.2011)
Wolfgang Amadeus Mozarts «Il re pastore» im Opernhaus Zürich
Die drei letzten Neuproduktionen des Opernhauses waren Schwergewichte: Schönbergs «Moses und Aron», Janáčeks «Totenhaus», Wagners «Parsifal». Jetzt, bei Mozarts «Il re pastore», kann man sich zurücklehnen, hörend und schauend geniessen. Dass es sich bei der im Zürcher Opernhaus noch nie gespielten Serenata um ein Jugendwerk handelt, macht der Regisseur Grischa Asagaroff mit einer kleinen Rahmenhandlung deutlich: Während der Ouvertüre nimmt eine muntere Schulklasse vom Schauplatz, der «Fontana del re pastore», Besitz. Als die Schar weiterzieht, bleibt einer der Knaben, hinter der Statue des Hirten versteckt, zurück. Erst zuletzt, beim Lobgesang auf die Liebe und den siegreichen Herrscher, wird er sich wieder zeigen. So scheint sich die eigentliche Handlung aus der Phantasie dieses Knaben zu entwickeln, und das passt zu der Vorlage wie zu der jugendfrischen, heiteren Musik, die Mozart auf das Libretto von Metastasio komponiert hat und die vom «Orchestra La Scintilla» unter der Leitung von William Christie mit zündendem Elan, sprühender Farbigkeit und tänzerischem Schwung intoniert wird. Einzig in der Arie «L'amerò, sarò costante» erschliesst sich die Dimension wahrer, tiefer seelischer Empfindung, und da begegnen sich das Orchester und die Sopranistin Martina Janková, die die Titelrolle singt, auf gleicher Höhe.
Es geht um den klassischen Konflikt zwischen Liebe und Pflicht. Der Hirte Aminta, der glücklich mit seiner Herde und seiner Geliebten Elisa lebt und nichts von seiner königlichen Abstammung weiss, wird vom makedonischen Herrscher Alessandro aufgespürt und für den Thron bestimmt. Um das Land vollends zu befrieden, will er Aminta mit Tamiri, der Tochter des gestürzten Tyrannen, vermählen. Doch während deren Geliebter Agenore den Vorrang der Pflicht vor der Liebe anerkennt, will Aminta lieber auf den Thron als auf Elisa verzichten – womit für Alessandro der Beweis erbracht ist, dass der Hirte ein vorbildlicher König sein wird und die zwei Paare so zusammengehören, wie es die Herzen bestimmt haben. Viel braucht es nicht, um den Herrscher zu dieser Einsicht zu bringen – die Aufführung dauert kaum mehr als zwei Stunden –, denn eigentlich beruhen Alessandros wohlmeinende Pläne nur auf Ahnungslosigkeit und Missverständnissen, die Liebenden sind nie wirklich in Gefahr, und der grosse Alexander von Makedonien erscheint hier als ein Monarch, der trotz seinem pompösen Auftreten etwas schwer von Begriff ist.
Das Opernhaus hat für diese eher kleine Partie den gefeierten Tenor Rolando Villazón verpflichtet, doch trotz diesem Magneten blieben an der Premiere etliche Plätze leer. Der Star gibt sich betont bescheiden und engagiert und lässt all seinen Charme spielen. Die Skepsis gegenüber seiner stimmlichen Verfassung sollte sich leider als berechtigt erweisen. Die Höhe hat ihren Glanz eingebüsst, der Mittellage fehlt es an farblichen Schattierungen, die tiefen Töne werden bloss markiert, und den Koloraturen hört man an, dass sie nicht seine Spezialität sind. So sieht sich der König von seinem Berater Agenore bald in den Schatten gestellt. Der junge Tenor Benjamin Bernheim hat alles, was man sich von einem Mozart-Tenor wünscht: Leichtigkeit des Ansatzes, Agilität, ein helles, klares Timbre.
Sein Pendant bei den Frauenstimmen ist Martina Janková in der Kastratenrolle des Aminta. Zum reinen Wohlklang ihres Soprans, den ein starkes Vibrato nur geringfügig beeinträchtigt, gesellen sich bei ihr die Innigkeit und Natürlichkeit des Ausdrucks. Malin Hartelius tut sich mit der Partie der Elisa etwas schwerer, an Kultiviertheit erweist sie sich ihrer Kollegin aber als durchaus ebenbürtig, und wie jede der Frauenstimmen, auch die etwas dunklere, härtere von Sandra Trattnigg (Tamiri), ihr eigenes, charakteristisches Timbre entfaltet, wie die Aufführung insgesamt den Ensemblegeist pflegt, das macht die eigentliche Qualität dieser Einstudierung aus. Zu verdanken ist dies auch dem Regisseur. Grischa Asagaroff, der sich nach mehr als dreissigjähriger enger Verbundenheit mit dem Haus – seit 1991 als Betriebsdirektor und vielbeschäftigter Regisseur – verabschiedet und mit Alexander Pereira nach Salzburg zieht, will mit seiner letzten Zürcher Inszenierung nochmals an seinen Mentor Jean-Pierre Ponnelle erinnern. Die barocke Brunnenanlage mit Grotte, die er sich von Luigi Perego hat bauen lassen, könnte tatsächlich von diesem entworfen sein und lässt erkennen, dass «Il re pastore» keine richtige Oper, sondern eine «azione teatrale» ist, die man sich vor lauschiger Kulisse auch halbszenisch oder konzertant aufgeführt denken kann. Die Kostüme, auf denen Schäferszenen nach Bildern von Boucher und Fragonard zu erkennen sind, hätte der grosse Ästhet Ponnelle aber wohl unbedruckt gelassen.