Die Liebe in der Wüste

Peter Surber, St. Galler Tagblatt (27.06.2011)

I Lombardi alla prima crociata, 24.06.2011, St. Gallen

St. Galler Festspiele Sängerisch stark, bildmächtig und mit einer Moral, die trotz fragwürdiger Story funktioniert: Am Freitag hatte Giuseppe Verdis Oper I Lombardi auf dem St. Galler Klosterhof open-air Premiere.

Die Bühne ist eine Düne, sandgelb verwandelt sie den Klosterhof in eine Wüstenei. Nach der Pause, einen Augenblick lang schwappt sie dann als blaue Welle daher, ein Vorzeichen für Siloahs Quelle, die die Kreuzfahrer im vierten Akt zum Kampf um Jerusalem stärken wird. Und einmal wird sie zum Firmament: Giselda trauert ihrem toten Geliebten Oronte nach, da kippt ihre Trauer unversehens in Euphorie, Verdi «at his best» komponiert ihr eine aufgekratzte Triumpharie, und aus dem Bühnenboden leuchten tausend rote Sternchen in den St. Galler Nachthimmel. Open-Air-Opernpoesie.

Gott will es nicht!

Die Bühne (von Hank Irwin Kittel) und Katia Pellegrino als Giselda: Das sind zwei Trümpfe der diesjährigen Festspieloper «I Lombardi alla prima crociata». Die italienische Sopranistin zieht als Liebende mit berührenden Pianissimi wie als Kämpferin mit Strahlkraft die Fäden in der Männerwelt der Kreuzfahrer. Verdi hat ihr die lieblichsten Kavatinen zugedacht, aber auch die Verzweiflungsarie im Finale des zweiten Akts: ihr «Nein» gegen den Krieg, wo Verdi das mittelalterliche Kreuzzugsmotto «Gott will es» kurzerhand mit den Mitteln der Koloratur bodigt: «No, Dio nol vuole!»

Die Götter dieser Oper wollen aber auch die Liebe nicht – ein einziges grosses Duett ist der Christin Giselda und dem «Muselmann» Oronte zugestanden, bevor er tödlich verwundet wird. Maxim Aksenov singt den Oronte mit Glanz in der Stimme wie in den blitzenden Augen.

Verbotene Liebe

Regisseur Guy Montavon findet für die überkonfessionelle und also verbotene Liebe, das Kernstück dieser Oper, ein Bild, wie es nur open-air möglich ist: Mitten im Zeltlager, beobachtet von Kriegern, singen sich die beiden zuerst über die ganze Weite der Bühne hinweg ihr Jawort zu, bis sie zur gefährlichen Umarmung im Unisono zusammenkommen. Und gleich («fuggi!») wird daraus wieder Flucht.

Intimität zu schaffen in der Masse – und so ihre Verletzlichkeit doppelt zu betonen: Dieses Bühnenparadox handhabt der Regisseur virtuos. Er bündelt die wogenden Menschenmassen auf der weitläufigen Bühne zu prägnanten Choreographien. Die schlagkräftigen Theaterchöre von St. Gallen und Winterthur, verstärkt durch den Prager Philharmonischen Chor, wechseln Rollen, Kostüme und Religion fliessend, sind bald kreuzbewehrte Lombarden, bald arabische Halbmondträger, hier Nonnen und dort (in einem witzigen Stück) Haremsdamen, die der gefangenen Giselda erst den Hof und dann die Hölle heiss machen.

Private Winkelzüge

Die Chorauftritte, das sind die Bilder und die Zeichen, die bleiben: die wallenden Mähnen des Männerchors, Rücken zum Publikum; Riesentisch und Stühle im ersten Akt und das Halbrund der Mörder; das schwarze Zeltlager des Kriegs im Kontrast zu den weissen Händen der Vergebung, der kurze pantomimische Kampf um Jerusalem, eher ein «Drôle de guerre», und das beklemmende Schlachtfeld danach. Schwieriger zu folgen ist den privaten Winkelzügen: Verrat, Verbannung, Kleidertausch, Mord und Totschlag wogen auf und ab wie der Kamm der Bühnendüne.

Klar herausgeschält wirkt der verbrecherische Charakter des Pagano, den Tigran Martirossian mit fülligem Bass und markigem Spiel charakterisiert, und der religiöse Fanatismus seines Bruders Arvino (Derek Taylor), der noch am Schluss Giselda meucheln würde. In den weiteren Solorollen: Tijl Faveyts, Gergana Geleva, Wade Kernot, Fiqueret Ymeraj und Marc Haag.

Krude Handlung

Wer nicht alles versteht, kann sich allerdings glücklich schätzen. Denn nähme man das Libretto bei jedem Wort, müsste man diese Oper in die Verbannung schicken wie den wortbrüchigen Pagano. Der «einzig wahre» Gott triumphiert über die «gottlose Bande der Moslems», Oronte besingt seine «erlöste Seele», nachdem er getauft worden ist, und selbst Giselda feuert am Ende die «guerreri della croce» an. Die Chöre der Araber beschimpfen die christlichen «Barbaren», diese wiederum den «lächerlichen Allah» – Religionsquark aus dem tiefsten 19. Jahrhundert.

Aber der Regie gelingt es, aus der Vorlage das Gültige ins Bild zu setzen: den Irrwitz eines Eroberungskriegs, bei dem am Ende Kreuze wie Halbmonde einen Scherbenhaufen aus Altmetall bilden. Im Schlussbild glänzt der Schriftzug MINARETT vor den zwei Klostertürmen, eins steht fürs andere.

Gauklers Geige

Verdis Partitur hält dabei mit – so zeitbedingt das Libretto (es ging auch um den «Kreuzzug» der Lombarden gegen die habsburgische Fremdherrschaft) sein mag, so zeitübergreifend erweist sich die Komposition: farbig in der Instrumentierung, virtuos in den Chorsätzen, etwas karg an Ensembles. Und es gibt Gänsehaut-Musik: Kriegstrompeten und Tschinellen schmettern, der Mörderchor im ersten Akt ist furios, Giseldas Gebet «Oh madre» umschmeicheln Klarinetten und Flöten, das Finale feiert stimmgewaltig sich selber. Das Sinfonieorchester St. Gallen unter Antonino Fogliani leistet unter dem Dünenrund ganze Arbeit.

Und dann das Geigensolo. Die Geschichte hält den Atem an, bevor Oronte getauft wird und stirbt. Auf der leeren Bühne erklimmt ein Gaukler die steile Bühnenecke, geigt sich sein eigenes Requiem, und wenn er geendet hat, steigen weisse Ballone in den schwarzen Nachthimmel wie die Seelen der Liebenden aller Religionen. Ein fragiles Friedenszeichen.