Der Meeresspiegel wird zum Seelenspiegel

Christian Berzins, Mittelland-Zeitung (06.09.2011)

Der fliegende Holländer, 04.09.2011, Bern

Das Stadttheater Bern eröffnet die Saison mit Richard Wagners Oper «Der fliegende Holländer» – ein Erfolg

Was schlugen sich die Wagnerianer diesen Sommer gegenseitig die Köpfe ein, endlos ihre Diskussionen über die Bayreuther Regisseure. Bei Sebastian Baumgartens miserablem «Tannhäuser» wars kein Diskutieren mehr, sondern einstimmige Ablehnung. Ja, das Regietoleranz-Pegel schlug hier um, manch einer sagte: So gehts nicht mehr! Nike Wagner, Ur-Enkelin von Richard Wagner und wahrlich ein Kind der Moderne, meinte gar, diese Inszenierung sei sofort abzusetzen.

Doch kaum ist die Festspielsommerluft vom ersten Herbstregen erdrückt, wagt sich das Stadttheater Bern an Richard Wagners «Fliegenden Holländer» – und erntet einhellige Begeisterung! Nicht etwa, weil da eine altbackene Inszenierung zu sehen wäre, sondern weil die Grundpfeiler einer romantischen Geschichte stehen gelassen worden sind, die Handlung dennoch ohne zu viel Aufhebens klug in der Gegenwart erzählt wird. So werden die Spinnerinnen zu Fischfabrikarbeiterinnen, ein Kistchen mit Schmuck zu einem Koffer voller Geld – und ja, beim Matrosenfest gehts deftig heutig zu und her. Aber das ist es dann schon an Modernisierung, mit einer kleinen körperkontaktfreudigen Ausnahme, die nicht verraten werden will.

Bereits können wir uns auf die Charaktere konzentrieren. Das ist spannend, geht doch der Schweizer Regisseur Dieter Kaegi dem Seelenspiel seiner Figuren wahrlich auf den Grund. Es sind bisweilen Details, die er umdeutet, aber immer bringen sie die Geschichte vorwärts.

Nicht auf dem Seelen-, sondern auf dem Meeresgrund beginnt das ganze Spiel. Bricht der Ouvertürensturm los, schauen wir von dort unten hinauf in die Welt – ein prächtiger Effekt von Bühnenbildner Francis O’Connor! Zum Schluss werden wir dahin zurückkehren, endet die Sage vom Fliegenden Holländer doch mit einem tragischen Happy End: Alle sieben Jahre darf der verfluchte Seefahrer an Land, allein eine treue Frau könnte ihn von dem teuflischen Bann befreien. Senta will die Erlöserin sein. Alles scheint perfekt vorbereitet, wäre da nicht diese Geschichte mit Erik...

Kaum durch die Meereswogen hindurch die Ouvertüre gehört, peitscht uns auf Dalands Schiff der Regen ins Gesicht. Doch gemach, Ruhe kehrt ein. Irritierend ist nur, dass unter den rauen Seemännern auch ein kleines Mädchen weilt. Klein-Senta ists, sie tankt hier offenbar ihren Fantasiekopf voll. Jedenfalls hat sich dieses Mädchen, später die junge Frau, so sehr in die Liebe zur Sagengestalt hineingesteigert, dass sie jede Faser seines Charakters bereits zu kennen scheint, wenn der Holländer in der Fischfabrik vor sie tritt. Später dann gibt sie sich ihm hin, derweil Erik darob verzweifelt.

Tolle Sänger, gutes Orchester

Nahe gehts, wenn zum Schluss, Mardy Byers als Senta ihr Liebesglück bringendes Todesurteil schmettert, bevor sie sich in die Meerestiefen stürzt. Die Amerikanerin bewältigt ihre Partie mit Verve, weiss das Zarte und Dramatische zu verschmelzen. Kevin Short (Holländer) singt noch eine Spur sicherer – und er ist darstellerisch eine stille Wucht. Aber fast alle sind gut. Luciano Batinic (Daland), Andries Cloete (Steuermann) oder Niclas Oettermann (Erik), auch wenn er etwas gar schwärmerisch und stürmisch drauflos singt. Detail, denn Dirigent Srboljub Dinic hält das Berner Symphonieorchester bestens zusammen und dient den Sängern enorm. Kaum ein Ton wird zugedeckt, aber wenn es loszupreschen gilt, sind alle Orchestermänner und -frauen an Bord. So gelingt diesem Team ein aufwühlender und grosser Opernabend.

Bayreuth in Bern? Nicht ganz, aber schön ists, einen Wagner-Abend zu geniessen, ohne dass man sich danach an den Kragen geht. Die «Holländer»-Wasserschlacht kommt früh genug: Am 25. Juli 2012 steht in Bayreuth die Neuinszenierung des «Fliegenden Holländers» an. Aber wer weiss, vielleicht besinnt man sich ja auch dort auf eine überzeugende Theatersprache ohne absurde Verfremdungen.