Alfred Zimmerlin, Neue Zürcher Zeitung (07.09.2011)
«Der fliegende Holländer» im Stadttheater Bern
Wir beobachten Sentas Sterben vom Meeresgrund. Mit tanzenden Bewegungen versinkt sie, bis sie tot im Wasser schwebt. Und dahinter, zu den mächtigen Quarten und Quinten des Holländer-Themas im Orchester, geht das übergrosse Schiff des Fliegenden Holländers wie ein gepanzertes Kriegsschiff aus dem Ersten Weltkrieg unter. Durchaus realistisch sehen der Regisseur Dieter Kaegi und sein Bühnenbildner Francis O'Connor den Schluss von Richard Wagners früher romantischer Oper «Der fliegende Holländer», mit welcher das Stadttheater Bern seine Opernsaison eröffnete. Schon zu den ersten Klängen der Ouvertüre hatte man die von der Luftakrobatin Janine Eggenberger dargestellte ertrinkende Senta gesehen, ihr Enden ist von Beginn an präsent.
In der ersten Szene entdecken wir Senta als Kind (Anna Stalder) mit einer Puppe im Arm auf dem Deck des Schiffs ihres Vaters Daland. Der ist latent gewalttätig, knufft bald da, bald dort und verschont auch den Steuermann nicht. Das geschiente Bein des Mädchens lässt an Missbrauch denken. Das Bild des Holländers für den zweiten Akt zeichnet sie selber bei dessen erstem Auftritt auf die Rückseite einer Seekarte. Und diesen zweiten Akt versetzt Kaegi in eine heruntergekommene Fabrik für Fischverarbeitung. In ihrem Spind bewahrt die junge Erwachsene Senta die alte Seekarte mit dem Holländer-Bildnis auf. Spürbar wird sie von den andern Frauen und der als Aufseherin amtierenden Amme Mary ausgegrenzt. In feindlicher Umgebung also lebt diese von Mardi Byers vortrefflich gespielte, nicht nur sympathische Senta. Kaegi zeigt, wie sich ihre Persönlichkeit entwickelt, welche inneren und äusseren Widerstände sie überwinden muss, um aus der Enge in ein anderes Leben auszubrechen, das sie mit einem zweiten Ausgestossenen, dem Holländer, verbindet.
Das ist die eine Ebene. Doch vergisst Kaegi die geheimnisvolle Seite des inhaltlich noch sehr mit der Frühromantik verbundenen Werkes nicht. Er öffnet gleichsam durch Verschmelzung verschiedener Zeitebenen in eine vielschichtige Gleichzeitigkeit einen Assoziationsraum, in welchem der Realismus nicht die einzige Schicht ist. Er tut dies mit atmosphärisch dichten Bildern (in welchen man sich bisweilen eine noch etwas gewieftere Personenführung gewünscht hätte). Das eindrückliche Bühnenbild mit den in der Vertikale bewegten Schiffsdecks, Unterdecks und Fabrikräumen und seiner Tiefenstaffelung unterstützt dies nach Kräften (und leider mit einer störend hörbaren Hydraulik). Das ist ein «Holländer», der sich einem einprägt, der einen beschäftigt.
Wie von Wagner ursprünglich vorgesehen erklang der «Holländer» als grosse Ballade mit drei nahtlos verbundenen Akten. Chefdirigent Srboljub Dinić und das Berner Symphonieorchester verhalfen der oft sinfonisch angelegten Partitur zu meist überzeugender Wirkung. Wobei der unglaubliche Schwung, den diese Musik von der ersten bis zur letzten Note entwickeln kann, von Dinić etwas gezügelt wurde; schon in der Ouvertüre legte er mehr Gewicht auf ein klares Nebeneinanderstellen der Formteile. Sehr überzeugend traten der Chor und der Extrachor des Stadttheaters Bern auf (Leitung: Bohdan Shved). Mardi Byers war als Senta darstellerisch wie gesagt hervorragend; sängerisch klangen ihre leiseren Passagen wunderschön, sobald sie jedoch kräftiger über das Orchester singen musste, begann ihr Timbre etwas scharf und weniger ausgeglichen zu wirken.
Famos der wohlgeformte Bariton des auch mit starker Präsenz spielenden Kevin Short als Holländer; er steigerte sich im Verlauf des Abends eindrücklich. Schon im grossen Duett mit Senta am Schluss des zweiten Aktes war er in Hochform, um dann die Schlussszenen atemberaubend zu gestalten. Sehr schön der Bass von Luciano Batinic (Daland), ebenmässig, kräftig und leicht nasal der Tenor von Niclas Oetermann (Erik), Marit Sauramo unterstrich die zickigen Seiten der Mary, Andries Cloete sang den Steuermann mit seinem hellen, beweglichen Tenor ausgezeichnet und war ein quirliger Darsteller.