Alfred Zimmerlin, Neue Zürcher Zeitung (09.09.2011)
Rossinis «La scala di seta» in Winterthur
Es ist heikel, die Musik des jungen Gioachino Rossini so zu interpretieren, dass sie nicht banal wirkt. Denn das ist funktionale Musik, geschrieben für das Theater; dort entfaltet sie ihre volle Wirkung.
Dafür braucht es ein Regieteam, das den Mut hat, ein Stück auf die Spitze zu treiben und das Publikum immer wieder neu zu überraschen, Sängerinnen und Sänger, die nicht nur virtuos singen, sondern auch virtuos spielen können, einen Dirigenten und ein Orchester voller Beweglichkeit. Wie das im Theater Winterthur bei der Premiere der Farsa «La scala di seta» (Die seidene Leiter) des knapp zwanzigjährigen Rossini der Fall war.
Nächtliche Klettereien
Zur Saisoneröffnung pflegt das Zürcher Opernhaus in Zusammenarbeit mit dem Theater Winterthur und dem Orchester Musikkollegium Winterthur im Winterthurer Haus eine Rarität zu präsentieren. «La scala di seta» (1812) ist eine jener vier frühen, für Venedig komponierten Possen, mit welchen Rossini sein Opera-buffa-Talent auf überlegene Weise vorstellen konnte. Gewiss, die Geschichten ähneln sich; immer geht es deftig und erotisch zu, viel Situationskomik wird provoziert.
In «La scala di seta» ist Giulia bereits heimlich mit Dorvil verheiratet, was seine nächtlichen Kletterpartien über eine Seidenleiter in ihr Schlafzimmer immerhin legitimiert. Giulias Vormund Dormont indes würde sie gerne einem andern Mann geben, nämlich dem stadtbekannten Verführer Blansac. In den wiederum ist Giulias Cousine Lucilla verliebt, und selbstverständlich sorgt der Diener Germano tölpelhaft für die nötigen Verwirrungen, bis sich alles in Minne auflöst.
Vor einem knappen Monat hatten der Regisseur Damiano Michieletto und der Bühnenbildner Paolo Fantin das Werk am Rossini-Festival in Pesaro gezeigt; diese Inszenierung wurde nun mit Zürcher und Winterthurer Kräften nachgespielt. In einer modern eingerichteten, quasi im Fernsehstudio aufgebauten Zwei-Zimmer-Dachwohnung spielt das Stück – gleichsam als TV-Seifenoper. Wände existieren nur virtuell, sie sind als Grundriss auf den Boden gezeichnet und werden über eine 45-Grad-Spiegelfläche für das Publikum sichtbar, dank der man das Geschehen auch immer aus zwei Perspektiven betrachten kann. Ebenso sind die Figuren Typen von heute. Auf dieser Bühne zündet nun Michieletto ein Feuerwerk von Einfällen, spielerisch, erquicklich und mit witzigen Symmetrien. Da wird mit Tempo und Phantasie für beste Unterhaltung gesorgt.
Der Dirigent Zsolt Hamar animierte das mit doppelten Holzbläsern, Hörnern und Streichern besetzte Orchester Musikkollegium Winterthur zu jenem leichten, wendigen Spiel, das sich mit dem Bühnengeschehen aufs Beste verbindet. Jeffrey Smith improvisierte am Hammerflügel die Begleitungen der Secco-Rezitative und etlicher szenischer Elemente augenzwinkernd: eine Freude. Dann die Sängerinnen und Sänger: die Sopranistin Sen Guo, eine fabelhafte Giulia, beweglich, mit prächtigem Spiel. Der in Winterthur aufgewachsene Bariton Ruben Drole war nicht nur sängerisch, sondern auch schauspielerisch als Diener Germano schlicht umwerfend gut.
Wunderbar zickig
Lucilla wurde von Christina Daletska wunderbar stakelig und zickig überzeichnet, wie das Rossini auch mit der Begleitung ihrer Arie «Sento talor nell'anima» durch zwei spitz klingende Piccoloflöten suggeriert. Edgardo Rocha gab den Dorvil als leicht beschränkten Eifersüchtling mit einem glänzend geformten Belcanto-Tenor, der geschmeidige Bariton Davide Fersini machte aus Blansac einen narzisstischen Beau erster Güte, herrlich auch Raimund Wiederkehr als Dormont in der einzigen kleineren Rolle des Stücks.