Alfred Zimmerlin, Neue Zürcher Zeitung (19.09.2011)
Peter Stein inszeniert im Opernhaus Zürich Schostakowitschs «Nase»
Beglückt und bereichert verlässt man für einmal das Opernhaus Zürich nach dem Erlebnis eines grossen Theaterabends, bei dem man dank einem erregenden Zusammenwirken der Elemente ein vielfältiges Ganzes erlebt hat. Der grosse Theatermann Peter Stein hatte sich auf den genialischen Opernerstling «Die Nase» des 22-jährigen Dmitri Schostakowitsch eingelassen, und am Dirigentenpult stand einer, der mit dieser frechen und das Unerwartete suchenden Musik umgehen kann: Ingo Metzmacher.
Enge und weite Klangräume
Schostakowitsch hatte in den Jahren 1927/28 – beflügelt von der künstlerischen Aufbruchsstimmung der zwanziger Jahre in der jungen Sowjetunion – aus Gogols bitterböser, absurd-satirischer Novelle von 1836 ein revolutionäres Werk geschaffen, in dem Theater, Kabarett, Film, Surrealismus und Realismus in eins schmelzen. Mit Szenen, welche die Operngeschichte noch nie gesehen hatte; mit einer Musik, welche ständig die Ausdrucksräume wechselt. Und zwar buchstäblich, das hat Metzmacher mit aller Klarheit gezeigt: Das Orchester im Graben, die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne schaffen akustische Räume ganz unterschiedlicher Grösse – einmal eng und klein, einmal riesig, in die Tiefe und Breite gestaffelt. Mitunter mit scharfen Schnitten.
Schon die Übergänge in den ersten Takten der Orchestereinleitung hat Metzmacher gleichsam räumlich gehört, gezeichnet mit Schärfe und rhythmischer Prägnanz. Oder die Szene in der Kathedrale im vierten Bild: eindrücklich, wie jede Schicht, jede Stilebene ihre eigene Zeit und ihren eigenen Raum erhielt, wie plastisch Metzmacher das musikalisch darstellte. Die orchestralen Zwischenspiele wurden zu virtuosen Bijous eigener Prägung, zugespitzt. Nie verlor Metzmacher die Übersicht über die heterogene Partitur, selten gab es kleine Probleme mit der Balance zwischen Orchester und Bühnengesang. Das Werk erhielt eine Farbigkeit und einen Sog sondergleichen.
Auch im Vokalen. Da ist vorab der von Ernst Raffelsberger und Lev Vernik ausgezeichnet vorbereitete Chor, der in der Kathedralenszene mit erlesenen Klangnuancen brilliert, auch sonst prächtige Auftritte hat und solistische Beiträge liefert. Umwerfend die witzige achtstimmige Fuge der Zeitungsangestellten. Grosse Rollen wie die des seiner Nase verlustig gegangenen Platon Kusmitsch Kowaljow gibt es indes wenige. Lauri Vasar sang ihn mit seiner wohlgebildeten Stimme wandlungsfähig. Bei Stellen, wo plötzlich grosse Oper in das Stück einbricht, brillierte er: Seine Arien in der Zeitungsredaktion oder am Schluss des zweiten Aktes, wo er verzweifelt dem Statussymbol in seinem Gesicht nachtrauert, waren eindringlich. Überhaupt ein grosser Moment, wie hier die Musik vom überraschend eingesetzten Balalaikalied des Dieners Iwan – auch er eine grosse Rolle, besetzt mit dem ausgezeichneten Michael Laurenz – in das Verweilen in grossen Operngefühlen kippt. Wie eminent musikalisch diese Kurve genommen wurde.
Bizarr mit einem sehr hohen Tenor ist die Rolle des Wachtmeisters besetzt: Alexej Sulimov gab ihm die nötigen grotesken Züge. Immer wieder neue Rollen tauchen auf in diesem personalreichen, überzeugend besetzten Ensemble. Erwähnt seien die ihre Figuren herrlich überzeichnenden Valery Murga und Liuba Chuchrova als Barbier und dessen Ehefrau, Liliana Nikiteanu und Eva Liebau als Mutter und Tochter Podtotschina. Oder Cornelia Kallisch, welche die vornehme Matrone mit einer gewaltigen Portion Doppelbödigkeit auszustatten wusste.
Gleichgewicht und Logik
Ein so ungestümes Werk verführt zu Üppigkeit, doch der Regisseur Peter Stein gerät keineswegs in diese Falle. Was an seiner Inszenierung am meisten beeindruckt, ist sein differenzierter und feiner Sinn für das Gleichgewicht der Elemente, die das Stück kennzeichnen. Wie muss eine turbulente Szene gebracht werden, dass sie einen nicht vom Hören der komplexen Musik abhält? Stein findet genau die richtige Dosierung von Aktivität und Lesbarkeit. Nichts geschieht aus Selbstzweck, die Regie dient ganz dem Stück und ist dennoch eigenständig. Und stark. Stein erzählt die Geschichte mit bestechender Logik. Die grossen Orchesterzwischenspiele etwa bebildert er mit pantomimischen und tänzerischen Einlagen (Choreografie: Lia Tsolaki), die den Erzählfaden konsequent unterstützen und der Musik Sinn und Plausibilität geben.
Dass die Vielschichtigkeit so zur Geltung kommt, liegt auch am attraktiven Bühnenbild von Ferdinand Wögerbauer. Von den engen Kästen der Innenräume bis zum grossen Aussenraum oder zu einer spektakulär in die Höhe gehenden Hamsterrad-Maschine lässt sich diese Bühne in kürzester Zeit raffiniert verändern. Eine optische Grundschicht spielt mit der Bildersprache des Suprematismus (Malewitsch) oder des russischen Konstruktivismus aus der Entstehungszeit des Werkes, eine andere mit dem frühen sozialistischen Realismus. Auch die Kostüme von Anna Maria Heinreich passen sich mit ihren zahlreichen Anspielungen nahtlos in dieses subtile System der Gleichgewichte ein.