Ein Bilderbuch für freche Töne

Herbert Büttiker, Der Landbote (19.09.2011)

Nos, 17.09.2011, Zürich

Eine kleine menschliche Nase, die sich selbstständig macht, wandert im Opernhaus durch das kolossale Bilderbuch des Regie-Altmeisters Peter Stein – illuminiert von der zeichnerischirrwitzigen Musik des jungen Schostakowitsch: Theaterspektakel.

Kowaljow ist Kollegienassessor, und das muss in Gogols St. Petersburg eine recht angenehme Beamtenstellung sein, Grund dafür, hochnäsig zu sein und über andere die Nase zu rümpfen, wohl auch für Neid, weil andere dann doch noch um eine Nasenlänge voraus sind. «Iwan Jakowlewitsch, immer stinken deine Hände», sagt Kowaljow zu seinem Barbier, der ihn rasiert. So beginnt Dmitri Schostakowitschs Oper «Die Nase». Am anderen Morgen findet Iwan in seinem frischen Brot eine Nase, und Kowaljow entdeckt beim Blick in den Spiegel, dass seine Nase weg ist. Beide haben ein Problem: Iwan muss das Corpus Delicti loswerden, Kowaljew sein Zentralorgan wieder finden, das seine eigenen Wege geht und zum Staatsrat aufsteigt.

Die bizarre Geschichte für seine erste Oper hat Schostakowitsch in den Grundzügen Nikolaj Gogols gleichnamiger Erzählung entnommen. Bei der Arbeit am Libretto waren literarische Kollegen mitbeteiligt, am Ergebnis die Theater der jungen Sowjetunion sehr interessiert. Nach der Uraufführung am 30. Januar 1930 geriet das Stück, dem für den Aufbau der neuen Gesellschaft der positive Held fehlte, unter Beschuss und es landete in der Versenkung.

Kammeroper – grosse Oper

Die Karriere der «Nase» begann in den 60er-Jahren im Westen und nahm Fahrt auf, als die Oper 1974 noch unter den Augen des Komponisten von der Moskauer Kammeroper in den Spielplan genommen werden konnte. Die Produktion wurde zum Dauerbrenner und Exportschlager. Die leichte Möblierung der Bühne, die vielfachen Rollenwechsel, die das riesige Personal der Oper halbierten, das solistisch besetzte Orchester machten «Die Nase» zur leicht transportablen Kammeroper, die der rasanten, Kapriolen schlagenden, mit spitzer Feder geschriebenen Musik vollkommen entsprach. 2001 war sie zu Gast auch in Winterthur.

Das Opernhaus ist keine Kammeroper. Geradezu demonstrativ fährt es hier im Gegenteil seine grosse Bühnenmaschinerie auf und bietet mit rund sechzig solistischen Partien, mit Chor, Figuranten und Statisten einen spektakulären Grossaufmarsch, der Seltenheitswert hat. Zum Beginn seiner letzten Spielzeit in Zürich zeigt Alexander Pereira, was sein Haus zu bieten hat, dass man nur so staunt. Dazu gehören nun auch Peter Stein, der erstmals im Opernhaus inszeniert, Peter Wögebauer als ingeniöser Bühnenbildner, Anan Maria Heinrich für die bunte Kostümwelt und Ingo Metzmacher für ein zuspitzendes, reliefstarkes Dirigat, und alle sorgen sie dafür, dass der Operndampfer nicht schwerfällig stampft, sondern wie eine Fregatte manövriert – für ein kabarettistisch leichtes Opernvergnügen. Mit frenetischem Applaus wurde es quittiert.

Dass die Nasengeschichte auch eine Comic-Vorlage ist, zeigt schon die illustrierte Inhaltsangabe im Programmheft. Die Bühne macht für ihre zeichnerische Qualität Anleihen beim russischen Konstruktivismus. Die Kostüme mischen Altrussisches, Gogols Biedermeier und Schostakowitschs Art déco in feiner Figurinenarbeit, und vor allem ist die Affinität des Komponisten zum Kino, die dem Stück eingeschrieben ist, in fliessenden Bilderwechseln und in abrupten Schnitten bühnentechnisch immer wieder überraschungsreich gelöst.

Mensch und Maschine

Ans Kintopp lassen auch Slapsticks denken, und an der «Räuber und Poli»-Choreografie zum Schlagzeug-Zwischenspiel dürften auch Kinder ihre helle Freude haben. Aber ein Erlebnis ist freilich die unglaubliche Stringenz dieses ersten reinen Schlagzeugstücks in der Musikgeschichte für sich. Es wäre geeignet, auch verstörendere Bilder zu evozieren oder anstössigere. Das gilt besonders auch für das leidenschaftliche fugierte Zwischenspiel im 2. Akt, das hier aber nicht sexuelle Assoziationen weckt, sondern ein imposantes Mensch-Maschinen-Bild à la «Modern Times» untermalt.

Schostakowitsch lässt ihm ein verzerrtes Balalaika-Liebeslied folgen: Iwan, der Diener, singt es, gar nicht zur Freude seines entnasten Herrn – es sind auch solche kleine Episoden, beiläufige Bosheiten (auch vergewaltigende Polizisten sogen für eine «beiläufige» Szene), die vielen Grotesken, die von der Musik subtil oder grell kommentiert und ins Rampenlicht gestellt werden. Da wäre nun ein dicker Katalog fällig, um einem parodistisch grossartigen Ensemble gerecht zu werden. Alle werden sie aber überstrahlt von der Hauptfigur, die Lauri Vasar stimmlich und darstellerisch wunderbar verkörpert. Vor allem ist in ihm so viel Echtheit, so viel baritonale Güte, dass er in seiner Verzweiflung auch anrührt, und das macht ja die grosse Komödiantik aus.

Die Möglichkeit, es ihm hierin nachzutun, hat in der allerdings viel kleineren Partie die Möchtegernbraut Eva Liebau mit lieblichem Sopran. Andere wie Cornelia Kallisch vertreten köstlich den Spott auf alte Operndramatik. Mit hochgetrimmten Stimmen machen sich Autoritätspersonen lächerlich (Alexej Sulimow als Wachtmeister), deftige Volkstypen wie der Barbier und seine Frau (Valery Murga und Liuba Chuchrova), die vielen Polizisten oder der Annoncenverkäufer (Tomasz Slawinski), der aus Rücksicht auf den Ruf der Zeitung Kowaljows Inserat nicht annimmt und ihm zum Trost Schnupftabak anbietet, haben pointierte Auftritte.

Prächtig und frech

Die grosse Zahl von einzelnen Figuren ins Gesamtbild einzubinden und darin doch leuchten zu lassen, gelingt Peter Stein sehr schön auch ohne Einfälle auf Teufel komm raus. Musikalisch findet das Orchester unter der Leitung von Ingo Metzmacher ebenfalls zu einem Klangfluss, in dem viel solistisch herausfordernde Aktion integriert ist und in seiner Charakteristik hervorsticht – sie reicht vom zarten Piccolo-Lyrismus bis zum unflätigen Grimassieren der Posaunenglissandi, den Attacken des Schlagzeugarsenals und der jaulend singenden Säge – ja, die Musik erschien einem manchmal um einige Grade frecher als die prächtige Bilderbuchinszenierung.