Wir alle sind Wozzecks

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (19.09.2011)

Wozzeck, 17.09.2011, Basel

Das Theater Basel eröffnet die Opernsaison mit einem meisterlich inszenierten «Wozzeck» von Alban Berg

Beim Nachdenken darüber, was «modernes Theater» ist, kann man mit Leichtigkeit sehr konservativ werden. Im Schauspiel scheint immer noch Shakespeare das Mass der Theaterdinge zu sein, und in der Oper Mozart. Viel Neues ist da nicht unter der Sonne, auch wenn unendlich viele Stücke geschrieben und zahlreiche Theatermodelle ausprobiert worden sind. Das Wichtigste und vielleicht das Einzige, worauf es im Theater ankommt, ist immer noch (und wohl auf ewige Zeiten) die Kunst, lebendige und glaubwürdige Personen auf die Bühne zu zaubern.

Alban Bergs Oper «Wozzeck» ist auch in dieser Hinsicht ein Meisterwerk. Jede Szene unterscheidet sich von jeder anderen, jede Figur hat ihre eigene musikalische Farbe – der Hauptmann mit seinen extremen Intervallsprüngen und dem Falsettgesang, der Doktor mit seinem tönenden Zynismus, der auch musikalisch präpotente Tambourmajor, die geschundene Titelfigur Wozzeck, die mitunter ein bisschen sakral klingt, weil man ihm einst aus religiösen Gründen Schuldgefühle eingeimpft hat, und seine Marie, welcher Berg Melodien von unerhörter animalischer Wärme zugeeignet hat. Und dies alles im Rahmen einer Tonsprache, die man atonal nennt, die aber auf einen riesigen Fundus von klanglichen Vorbildern zurückgreift und sich mit souveräner Verfügungsgewalt zu eigen macht, was zwischen Monteverdi und Schönberg an Musikdramatischem komponiert worden ist.

Tönende Wasserringe

Jede Bühnendarstellung dieser 1925 uraufgeführten Oper muss daher um eine extrem deutliche Ausformung dieser in der Komposition angelegten Charaktere und Stilebenen bemüht sein. Dem Theater Basel ist es durch eine kluge und mit den Mitteln haushaltende Besetzungspolitik gelungen, diese Oper so gewinnend auf die Bühne zu bringen, dass das Premierenpublikum am Ende der 100-minütigen pausenlosen Aufführung rhythmisch applaudierte, als hätte es nicht einem immer noch sehr modern klingenden expressionistischen Musikdrama mit tödlichem Ausgang, sondern dem Silvesterkonzert der Wiener Philharmoniker beigewohnt.

Da wollen wir doch gleich unsere Philharmoniker preisen, das Sinfonieorchester Basel, das erstmals unter seinem Chefdirigenten Dennis Russell Davies eine Oper einstudierte und damit gleich punktete. Das hat Schwung und Verve, klingt differenziert und kompakt im Klang. Die vielen von Berg eingebauten lautmalerischen Stellen – die Orgel-imitation, das Rascheln der Maus, das Donnern, das Verhetzte von Wozzecks Gangart, das Versinken des Mördermessers im Wasser – all dies ist mit unmissverständlicher Klarheit realisiert, bis hin zu den hohl klingenden Todesklängen auf G ohne Terzen, mit denen die Oper endet. Und Dirigent Davies konnte einmal zeigen, was zu zeigen ihm im Konzertsaal meist verwehrt ist: dass er ein vorzüglicher Sängerbegleiter ist, der den grossen Orchesterapparat bis ins feinste Pianissimo zurücknehmen kann, wenn die Situation es erfordert.

Auch sängerisch wird man des Abends froh. Zu Beginn setzt Karl-Heinz Brandt mit seinem ungemein textverständlichen Tenor als Hauptmann einen hohen Standard. Rolf Romei, unlängst der Basler Wagner-Parsifal, singt den Andres so forcierend, wie die Rolle es verlangt. Stefan Vinke ist ein äusserlich derber, stimmlich durchaus kultivierter Tambourmajor, während das Ensemblemitglied Andrew Murphy dem Doktor leicht gespenstische Züge verleiht.

Schauspielerisch und sängerisch von erster Güte ist das Protagonistenpaar mit Edith Haller als anschmiegsame, aber durchaus aggressiv ihren Willen artikulierende Marie von hohem stimmlichem Reiz und Thomas J. Mayer – schon vor einigen Jahren gefeierter Don Giovanni und Schoeck-Achilles auf der Basler Opernbühne –, der die ganze Bandbreite der Wozzeck-Figur vom armen verwirrten Teufel bis zum Rächer aus verletztem Ehrgefühl durchschreitet und durchlebt. Wenn er im Verfolgungswahn über seinen Freund Andres herfällt, wirkt dies keinen Augenblick lang deplatziert, und wenn er einmal achtlos sein Kind wegstösst, erkennen wir darin die Problematik des Vaters, der seine Kindesliebe aus eigener Not nicht zum Ausdruck bringen kann.

Riskantes Einheitsbild

Die Inszenierung von Elmar Goerden im Bühnenbild von Silvia Merlo und Ulf Stengl geht ein hohes Risiko ein und gewinnt souverän. Denn da ist fast alles, was an Büchners Stoff an die Natur erinnert, eliminiert, reduziert bis auf kümmerliche Zimmerpflanzen und einen grünen Raum als synthetische Ersatznatur. Und sämtliche von Berg vorgesehenen Verwandlungen der Szenerie bleiben zugunsten der Einheitsbühne aus. Gespielt wird in einem Bühnenbild, das urbane Züge trägt und nicht das pittoreske Elend der Provinz, sondern die kaum weniger verzweifelte Not des entfremdeten anonymen Daseins in der Stadt zeigt. Zum Eindruck des Schäbigen trägt auch die kleine Musikkapelle bei, die in der vierten Szene des zweiten Akts auf die Bühne geschubst wird.

Im Zentrum der Bühne steht ein schräg gestelltes Treppenhaus, das den Spielraum für etliche Fluchten, aber auch für atmosphärisch dichte Video-visionen des halluzinierenden Wozzeck abgibt (Video: Jana Schatz). Marie ist offensichtlich ebenso wie Margret (Rita Ahonen) eine sich der Gelegenheits-prostitution widmende Hausfrau. Ihr namenloses Söhnchen wird vom Regisseur sehr präzis und textgetreu gezeichnet: Der Bub schläft immer, wenn er nicht gerade seine helmartige Mütze sucht, und ist sogar beim Mord an seiner Mutter nichtsahnend dabei.

Wozzeck schenkt dem von den anderen Kindern gequälten Söhnchen als liebender Vater zu Beginn eine Superman-Figur, die er aber gegen die frechen Übergriffe des Hauptmanns verteidigen muss. Am Ende versinkt nicht nur Marie, sondern auch Wozzeck im Blut, und alle Chormitglieder (Einstudierung: Henryk Polus) tragen weisse Plastiksäcke und blutige Hände – sie alle, wir alle sind Wozzecks.