Peter König, Der Bund (19.09.2011)
Kein Entrinnen: Das Theater Basel eröffnet seine Opernsaison mit einem grandiosen «Wozzeck».
Zur Oper als gehobenes Freizeitvergnügen des Bildungsbürgertums gibt es kaum einen radikaleren Gegenentwurf als Alban Bergs «Wozzeck» von 1925. Die nur Handlung lässt dem Publikum nicht die kleinste Atempause, nicht einen Moment des Innehaltens. Vielschichtig, abgründig, schroff, kontrastreich, expressiv - und dennoch minutiös und ausgeklügelt zusammengefügt, ist dies vielleicht das erstaunlichste Stück Musiktheater des 20. Jahrhunderts.
Das Theater Basel lässt dafür das bewährte Team von «Figaros Hochzeit» wieder antreten, Regisseur Elmar Goerden und das Duo Silvia Merlo/Ulf Stengel für das Bühnenbild: Das regelmässige, doch in seiner anonymen Beliebigkeit bedrohliche Gebäude weist mit Erste-Hilfe-Schränken und den Farben Weiss und Grün auf ein Spital hin. Wohl eher ein Irrenhaus, dessen Räume zu Wohnung, Wirtshaus oder Weiher werden. Aussen- und Innenwelt verschmelzen, so wie auch Wozzecks Ahnungen und Empfindungen mal Trugbild, mal Realität sein dürften. Wäre doch alles nur ein böser Traum, doch am Schluss ist Marie tot und er auch. Ihr Knabe wird als Waise heranwachsen und wohl wiederum ein armes Soldatenschwein abgeben, das an der Welt zerbricht. Diese Welt ist hoffnungslos, daran lässt Goerden keinen Zweifel. Die Typen sind boshaft, zynisch, verbittert oder alles zusammen.
Schrill und doch stets präzis
Der Bariton Thomas Johannes Mayer gibt dem Wozzeck grossartig Stimme und Gestalt, hilflos, getrieben, devot, doch auch fürsorglich. Der Demütigung durch den Tambourmajor ist er so schutzlos ausgeliefert wie den Anzüglichkeiten des Doktors (Andrew Murphy) oder des Hauptmanns (Karl-Heinz Brandt). Die «Sprachlosigkeit der menschlichen Kreatur» (Max Frisch) bringt Mayer beklemmend auf die Bühne. Beklemmend auf ihre Weise auch Marie. Edith Haller stattet sie mit warmen, üppigen, aber nie scharfen Tönen aus. Der Tambourmajor, Prototyp des Testosterontäters, geht nicht nur bildlich über Leichen. Stefan Vinke, nach seinem Bayreuth-Debüt vor einem Monat beinahe eine Luxusbesetzung, tut dies mit einer beängstigenden Selbstverständlichkeit.
Die anderen Rollen sind homogen besetzt, wobei der Andres von Rolf Romei und die Margret von Rita Ahonen herausragen. Bergs Partitur, so ausgeklügelt sie auch ist, erschliesst ihre Finessen nicht ohne weiteres. Fein aufgefächert, gebrochen, schrill und doch stets präzis, sie variiert, persifliert und illustriert.
Das Sinfonieorchester Basel ist auch als Bühnenmusik in der Wirtshausszene auf der Höhe der schwierigen Aufgabe und umschifft mit dem Dirigenten Dennis Russell Davies alle Klippen des kompakten, intensiven Abends. Die Wirkung ist die von Berg gewünschte: Vermittelt wird nicht die raffinierte Technik der Musik, sondern die «Idee dieser Oper». Sich ihrer Sogkraft entziehen zu wollen, ist unmöglich. Es gibt kein Entrinnen.