Tief erschütternder, aktueller «Wozzeck»

Christian Fluri, Mittelland-Zeitung (19.09.2011)

Wozzeck, 17.09.2011, Basel

Alban Bergs Oper in einer musikalisch wie szenisch dichten, starken Aufführung

Schon die ersten rauen, kantigen Klänge des Orchesters liessen aufhorchen. Brechen Wozzecks erste Wahnvorstellungen aus, sieht er die Erde brennen, reissen Posaunen und scharfe Geigentöne Abgründe auf. Dann klingt das Orchester wieder zärtlich, fast weinend über das Grauen in einer Welt ohne Perspektive. Die erste Opernpremiere am Theater Basel mit Alban Bergs «Wozzeck», diesem epochalen Werk (1915 bis 1920) nach Büchners «Woyzeck», ist einmal die Stunde des Sinfonieorchesters Basel und seines Chefdirigenten Dennis Russell Davies, der im Theater Basel einen grossartigen Einstand gibt. Der Wahn in Wozzeck, seine Verzweiflung, die Kälte der Welt, der Mord, all das erhält farbenreich, präzis und in packender Intensität Klang, dabei ist jedes Detail zu hören. Davies schält die Modernität von Bergs Musik in aller Schärfe heraus. Mit gleicher Intensität singt und spielt das vom herausragenden Wozzeck-Darsteller Thomas J. Mayer angeführte sehr gute Solistenensemble.

Dass uns «Wozzeck» so berührt, erschüttert, ist ebenso das Verdienst Elmar Goerdens, der hier seine zweite Oper inszeniert. Er leuchtet in der Personenregie die Charaktere bis ins dunkelste Innere aus. Seine Regie verknüpft sich eng mit der Musik.

Goerden erzählt «Wozzeck» als heutiges Drama. Er liest aus Bergs Oper die Welt heraus, die die ethischen Sicherheitssysteme über Bord wirft und sich in der eigenen Trostlosigkeit leer dreht. Er stellt Wozzecks Familie mit Marie und dem Knaben als auseinanderbrechende kleinste soziale Zelle ins Zentrum.

Eine kaputte heutige Welt

Der Bühneraum – von Sivlia Merlo und Ulf Stengl – ist ein urbanes Hochhaus. Im Hof steht ein Beet mit einer verdorrten Pflanze. Da ist nicht mal die kleinste Hoffnung auf Leben. Der Stängel wirkt vielmehr wie ein Galgen. Mit den zugemauerten Fenstern erscheint das Haus als begehbare Installation: Aussen- und Innenraum zugleich, Zeichen für Wozzecks Psyche, bewohnt von den ihn plagenden Geistern. Wozzecks Zerrissenheit wird durch Jana Schatz’ Video, das Raum und Figuren teilweise verdoppelt und den Blick der Angst an die Wände projiziert, verdeutlicht. Und Goerden wertet die kleine Rolle des Narren auf, zum Dämon in Wozzeck, der destruktiven, tödlichen Kraft (Noel Hernández).

Wozzeck ist hier nicht nur Opfer. In ihm, der von Arbeit zu Arbeit hetzt, um seine kleine Familie knapp zu ernähren, und jede Erniedrigung schluckt, brodelt gefährliche Aggressivität. Genial, wie Mayer dieses Hin und Her spielt und mit kernigem Bariton gesanglich gestaltet.

In dieser Welt gibt es keinen Halt für Wozzeck, nur den Sturz. Der Hauptmann, dem Wozzeck dient, ist ein arg kaputter Mann, der aus Todesangst Häme über andere ergiesst. Karl-Heinz Brandt singt und spielt ihn mit höchster Genauigkeit. Der Arzt steht für eine inhumane Medizin, die nicht an den Menschen interessiert ist. Sadistisch hilft er mit, den Wahnsinn in Wozzeck zum Ausbruch zu bringen. Andrew Murphy gestaltet ihn schauerlich gut.

In dieser Welt saufen und ficken sich die Menschen trostlos über ihre Öde hinweg, was Goerden klug andeutet und nie platt demonstriert. Emotional verdurstend wirft sich Marie dem Tambourmajor an den Hals, der hier radikal als blosse rohe Manneskraft gedeutet ist. Unter Marie klafft nur noch dunkle Leere. Edith Haller gestaltet ihre verzweifelte Sehnsucht nach etwas Leben mit genau zeichnendem Sopran ergreifend. Berührend ihre Zärtlichkeit, wenn sie Wozzeck noch letzten Halt geben möchte und nicht kann: Wozzeck schneidet ihr den Hals durch – vor Augen des Kindes (hervorragend Laurin Egli). Und er bringt sich selbst um. Den Schluss lässt Davies in der leblosen Kälte spielen, die einem den Hals zuschnürt.

Ein grosses Theaterkunstwerk – vom Premierenpublikum bejubelt.